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Tauchfahrt durch die populäre Triebabfuhr

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Pop im Strudel deutscher Leitkulturen – rechts- oder linksdrehende Walküre?
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„Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden“, argumentierte schon Paulus, als man ihn wegen einer Kollekte Schmarotzer nannte. Und ganz ähnlich wehrt sich bis heute, wer beruflich vom Wohl der Menschheit lebt. Ob Pfarrer oder Funktionär, Guru oder Entertainer. Sogar die Musikindustrie (vorgeblich im Überlebenskampf mit Napster-Adepten und Schulhofpiraten) benutzt zur Rechtfertigung, was der Apostel den mosernden Korinthern schrieb: „Niemand zieht in den Krieg und zahlt sich selbst den Sold.“ Logisch – oder doch bloß Tränen der Krokodile?

„Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden“, argumentierte schon Paulus, als man ihn wegen einer Kollekte Schmarotzer nannte. Und ganz ähnlich wehrt sich bis heute, wer beruflich vom Wohl der Menschheit lebt. Ob Pfarrer oder Funktionär, Guru oder Entertainer. Sogar die Musikindustrie (vorgeblich im Überlebenskampf mit Napster-Adepten und Schulhofpiraten) benutzt zur Rechtfertigung, was der Apostel den mosernden Korinthern schrieb: „Niemand zieht in den Krieg und zahlt sich selbst den Sold.“ Logisch – oder doch bloß Tränen der Krokodile?Nun ging es dort ums Seelenheil, während am Popmarkt schnödes Diesseits interessiert. Aber weil auch das mitunter Erlösung braucht – sei es durch psychedelische Instant-Utopien („Yellow Submarine“) oder akustische Gemütsmassagen, die den Alltag transzendieren –, scheint die Argumentation dennoch triftig. Erst recht, wenn neben triebabführender Sozialbefriedung auch identitätsbildende Pop-Aspekte gewürdigt werden. Dann wird’s nämlich unmittelbar gesellschaftlich und somit politisch. Sollte es zumindest, wie etwa MdB Monika Griefahn mutmaßt: „Der geschichtliche Fundus wie auch aktuelle Statements der Popkultur liefern genügend Material, um unsinnigen ‚Leitkultur‘-Debatten zu begegnen und deren völkischen Kern zu entlarven – und dadurch wiederum auch Perspektiven für eine wirksame Bekämpfung derartiger Rollback-Versuche.“ Denn: „Vielfalt ist der größte Feind der Einfalt.“

Ob Griefahns implizite Dreisatz-Didaktik („Mein Hit vereint schwarzen Soul, britischen Beat und Samples aus Brasilien – also respektiere ich die Menschen“) wirklich verfängt und nicht bloß Hoffnungspfeiffen im braunen Walde ist, scheint indes sogar bei jenen zweifelhaft, die den Sound des gottbegeisterten Mannheimers Naidoo mögen. Schließlich jubelt so mancher Rassist, wenn der Nigerianer ‚seines‘ Fußballclubs erfolgreich war – und beteiligt sich gleichwohl an mörderischem „Nigger-Klatschen“.

Eindeutig ist wohl nur, dass Griefahns Popverständnis auf einer Sicht beruht, die gemeinhin mit den geschmähten 68ern verbunden wird – wonach Pop (damals noch Rock genannt) für Aufbruch und Jugend stehe, libertär, konstruktiv-antiautoritär, egalitär und demnach „links“ sei. Es spricht indes für Weitblick, dass sie ihre Ausführungen zu „Pop & Politik“ mit dem Untertitel „Licht, Schatten, Leitkultur“ relativiert – zwingender aber werden sie darum nicht. Denn so sehr Pop auch zu Herzen gehen mag, so wenig erreicht er zumeist das, wofür es schlägt. Am Beispiel: Die Hymne „We are the Champions“ des durchweg integren schwulen Rock-Impressario Freddy Mercury bedeutet und transportiert sofort ganz Anderes, wenn sie eine chauvinistische Horde anstimmt. Popverwirrung oder doch inhärent martialische Differenzmarkierung à la Wir und Ihr?

Apokalyptisches Szenario

Für schonungslose Selbstversuche scheinen gegenwärtig die jüngsten Erfolge von Joachim Witt geeignet: Immerhin konnte der Neue-Deutsche-Welle-Star („Goldener Reiter“) sein Apokalyptik-Szenario „Die Flut“ (1998) gleich 700.000-mal verkaufen. Ein Gänsehautstück über Helden auf verlorenem Posten, in schwülstigen Heroik-Sound gekleidet wie die Sänger in schwarzes U-Bootfahrer-Leder, wenn sie im Video der Bedrohung mit Gitarrengewittern entgegenraunen (Auflösung als soldatisches Urangst-Motiv, siehe Klaus Theweleits „Männerphantasien“). Und ganz ähnlich taumelt das Witt-Album „Bayreuth 2“ (2000) mit Soundbombast zwischen Empfindsamkeit und Schicksal: Musik mit Kammersängervibrato und Schlageranleihen unter heftigen Attacken von StuKa-Gitarren.
Kulminationspunkt ist das vertonte Nietzsche-Gedichte im Song „Jetzt und ehedem“: „So schwer mein Herz/so trüb die Zeit/und nie Genügen/es zieht mich in den Strudel weit/Wehmut, Schmerz und Vergnügen/ich kann den Himmel kaum mehr sehn/den maienblauen/so überstürmen wilde Wehen/mich jetzt mit Lust und Grauen.“ Rezitiert in einer Stimmlage, die sonst nur HNO-Ärzte von ihren Patienten hören. Und dann wird’s zu losgaloppierenden Gitarrenloops brachial herausgerotzt: „Jetzt und ehedem – Jjjja!“ Ein Sturmangriff auf die Pathos-Rezeptoren, dem man sich trotz aller political correctness kaum entziehen kann – ergeben, weinerlich wie das Streicherarrangement und doch entschlossen. Hier triumphiert Existenzialismus als Pflichtgefühl.

Event-vernarrte Schwermut im Gewand euphorischer Melancholie, wie Fallschirmjäger vor dem Absprung (Kreta, Normandie, Dien Bien Phuh) – endlich wieder spüren, lebendig zu sein. Noch Pop? Pfiffige Gefühlssimulation allemal, die Triebabfuhr durch Erschütterung übers eigene Ergriffensein garantiert. Man muss das nicht gleich verdammen. Die Ambivalenz eigener Empfindsamkeit sollte man jedoch sehr wohl im Auge behalten. Und die prinzipielle Offenheit, die „Käuflichkeit“ von Pop nicht minder, denn wo die Erregung stimmt, legt der sich mit jedem ins Bett. Seine Unschuld verliert er trotzdem nicht, schließlich kann man von einem formalen ästhetischen Prinzip (Pop als die überraschende Mischung von artikulierten Bedürfnissen, Medien und Präsentationsformen; Diedrich Diederichsen) kaum anderes erwarten.
Dass Monika Griefahn und andere das trotzdem tun, ist ehrenwert, zugleich jedoch heikel: Zwar funktioniert Pop auf der (Kauf-)Plattform Musikmarkt durchaus global und stets mit globalen Ingredenzien, was nicht nur der anhaltende Weltmusik-Boom eindrucksvoll illustriert (siehe Buena Vista Social Club). In seiner Aussage-Tendenz beziehungsweise deren Rezeption ist er darum aber noch lange nicht „internationalistisch“, wie das früher hieß (im Sinne von Respekt für alle Menschen und Kulturen), also „gut“ – so sehr das auch zum dreschenden Ochsen und dessen Selbstbild passte.

Vielleicht ist es aber bezeichnend, dass Monika Griefahn ihren Beitrag für das gerade erschienene Pop-Jahrbuch „Pop & Kommunikation 2001“ geschrieben hat, das Auskunft über den Musikmarkt in Deutschland geben soll (state of the art), doch vermutlich eher über erwünschte Selbstbilder der hiesigen Musikindustrie informiert (state of the mind). Wie schon in den Vorjahren herausgegeben von VIVA-Chef Dieter Gorny (den „Zimmer frei“-Götz Alsmann erst unlängst zum kommenden Wirtschaftsminister Nordrhein-Westfalens erklärte), versammelt das Jahrbuch dazu so ziemlich alles, was derzeit zwischen Absatzzahlen und gesellschaftlichen wie zeitgeistigen Debatten branchenrelevant erscheint. Und zwar hinreichend und erfreulich deutlich, wie besonders Rudolf Augsteins Essay „Meine Leitkultur war jüdisch“ unterstreicht. Aber der Gegenstand, um den es geht – eben Pop –, wird damit trotzdem allenfalls beschworen.

„Links“ wird Pop dadurch noch lange nicht. Im Gegenteil, in die bemühte Spaß-Unschuld mischt sich Ambivalenz, die so vermutlich niemand bedachte, als Stefan Raab, Nonsens-Superstar und TV-Mann der Stunde (VIVA, PRO 7), ein kokett gefaketes Interview geben durfte („Raab total: ,Wenn ich Kanzler von Deutschland wär’...“). Schließlich lebt gerade sein aktuelles Fernseh-Format „TV Total“ von einer Überhöhung der Schadenfreude-Kultur, die nur vorgeblich ironisch oder liebmeinend ist. In Wirklichkeit praktiziert er Fernseh-Pop als Differenzmaschine, die Lustgewinn aus dem Sieger-Verlierer-Gegensatz via Erniedrigung produziert („We are the Champions“ – ihr aber nicht).

Nun mag Raab ansonsten durchaus integer sein, relevant ist er hier nur als Beispiel für Pop als offenes Prinzip, was von ganz anderer Seite auch „Trivial“-Autor Johannes Mario Simmel
illustriert. Seine Bücher waren immer so etwas wie „Der Spiegel“ in expliziter Romanform: Zeitkritische Mixturen aus bewegenden Schicksalen und aktueller Bedrohungschronik, die er vor dem Hintergrund penibel recherchierter Stoffe entfaltete. Unterhaltungsliteratur mit aufklärerischem Anspruch, so eingängig wie eindringlich. Eingetragen hat es ihm Millionen Leser, das Lob der Feuilletons aber nur selten. Seinem jüngsten Buch „Die Bienen sind verrückt geworden“ mit einer Auswahl auch von einigen noch unveröffentlichten Reden und Artikeln aus den vergangenen 20 Jahren könnte es ähnlich ergehen. So wenig Simmel nämlich zur ästhetischen Innovation im „ernsten“ Romanfach beigetragen hat, so wenig spitzfindig blieb er im gesellschaftskritischen Diskurs; auch dort eher Erfolgsautor als Stichwortgeber, mehr Pop- als Ariensänger. Zeugnisse eines kämpferischen Humanisten, der gegen Unmenschlichkeit, Rassenwahn und zügellosen Kapitalismus antritt: ob mit biografischer Reminiszenz, intimen Texten (über Willy Brandt, Stefan Heym und Marlene Dietrich) oder fulminantem Aufschrei, etwa gegen die Asylpolitik oder die unselige „Leitkultur“ (der jüngste Text der Sammlung). Im Mittelpunkt steht letztlich aber immer jene unselige Nazi-Zeit, der Simmel selbst als ,,Halbjude“ aus sozialdemokratischem Haus nur knapp entkam und die zu seinem allergrößten Entsetzen wieder mordende Gegenwart geworden ist. Trotzdem: Auch wenn er mit einer Deutlichkeit spricht, die man bei Politikern oft vermisst („Verflucht, schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“), über die Orientierung von „Trivial“-Literatur sagt das genauso wenig aus wie globale Ingredenzien oder libertäre Grundhaltungen über Pop. Zunächst sind beide nichts weiter als leere (mehr oder weniger gelingende) Formen, die ihre Inhalte anderswoher beziehen und Unterschiede artikulieren oder produzieren. Eben Differenzmaschinen.

Nazis sind Pop

Das ist auch der Grund, weshalb Burkhard Schröder in seinem streitbaren Essay „Nazis sind Pop“ (2000) die These vertritt, dass die Flut staatlicher Maßnahmen, Bündnisse und Initiativen „gegen Rechts“ ins Leere zu rauschen drohe. Denn nicht zuletzt, so Schröder, bemühen sie allesamt die Fiktion, dass es im Gefolge der siegreichen „linken“ Popkultur einen aufgeklärt-liberalen Gesellschaftskonsens gebe, der – zumindest tendenziell – so antirassistisch wie internationalistisch sei. Doch leider kann er – wenn auch mitunter störend moralistisch – triftige Gründe, Beispiele und Analysen des primitiven Alltagsrassismus gegen diese Sicht anführen. Bezogen auf Pop bleibt insofern also immer entscheidend, wen und was der Ochse drischt. Nur manchmal muss er wohl (frei nach Simmel) etwas kräftiger dreschen. Auf die Tenne gehört dann aber nicht bloß der Pop gewordene Rassismus in Bomberjacke und mit Skinhead-Frisur, sondern zunächst und vor allem die berüchtigte Stammtischmitte der Republik. Die haben wir alle in unserem verrotteten Herzen. So würde Paulus formulieren.


Dieter Gorny/Jürgen Stark (Hgg.): jahrbuch pop & kommunikation 2001, München 2001, 352 Seiten, mit CD-ROM, 98 Mark
Johannes Mario Simmel: Die Bienen sind verrückt geworden. Reden und Aufsätze über unsere wahnsinnige Welt, Beck’sche Reihe 1419, München 2001, 210 Seiten, 19,90 Mark
Burkhard Schröder: Nazis sind Pop, Berlin 2000, 160 Seiten, 24,90 Mark

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