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Übervater des venezolanischen Orchesterkonzepts: José Antonio Abreu im Kreise seiner Zöglinge. Foto: novapool
Übervater des venezolanischen Orchesterkonzepts: José Antonio Abreu im Kreise seiner Zöglinge. Foto: novapool
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Von der Dynamik eines gelebten Traums

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Frankfurter Musikpreis für José Antonio Abreu: Thomas Rietschel würdigt den Begründer des venezolanischen „Sistema“
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Ich möchte zu Beginn meiner Laudatio an einen Mann erinnern, – und ich weiß, lieber Herr Abreu, dass das auch in Ihrem Sinne ist – der heute hätte hier sein müssen. Es geht um unseren gemeinsamen Freund, Detlef Hahlweg. Ohne ihn säßen wir wahrscheinlich nicht hier, denn er hat sich unermüdlich bis zu seinem plötzlichen Tod vor zwei Jahren für die Ideen – oder soll ich sagen „für die Botschaft“ – der venezolanischen Jugendorchesterbewegung eingesetzt. Er war wohl der erste, der die Bedeutung dieser Organisation für uns in Deutschland erkannte. 1995 erzählte er uns im Bundesvorstand der Jeunesses Musicales Deutschland mit leuchtenden Augen von etwas ganz Wunderbarem, das er auf einer seiner vielen Reisen in Lateinamerika entdeckt hatte – und zwar in einem Land, von dem damals keiner von uns besonders viel wusste: in Venezuela. Er überzeugte dann schließlich auch im Jahre 2000 die Jeunesses Musicales Deutschland zu dem wahnsinnigen Unternehmen, eine Tournee mit einem in Deutschland völlig unbekannten Kinderorchester mit fast 250 Mitwirkenden zu organisieren, dirigiert von einem noch nicht einmal 18-Jährigen mit dem Namen Dudamel.

Wir legen Wert auf Qualität, bei uns spielen keine Kinderorchester“, „Jugendorchester, und dann noch aus Venezuela? Das interessiert doch niemanden“, „Da sollten Sie in das Dritte-Welt-Zentrum gehen, dafür sind wir nicht zuständig“, „Ein Orchester mit 220 Mitwirkenden? Wir sind doch kein Zirkus“.

Das waren die Antworten der großen Veranstalter in Deutschland, als wir versuchten, sie für dieses einzigartige Projekt zu gewinnen. Die Tournee hat trotzdem stattgefunden, zum Teil in Mehrzweckhallen, in Kurhallen oder anderen Gebäuden. Aber überall, wo dieses Orchester auftrat, waren die Menschen sprachlos vor Begeisterung. Abbado hat uns geholfen, ein Konzert in der Berliner Philharmonie spielen zu dürfen, und ich werde es nicht vergessen, dass dort am Ende des Konzerts das Publikum wie beim Popkonzert selig die Feuerzeuge schwenkte, weil die Menschen in diesem heiligen Musentempel nicht wussten, wohin mit ihrer Begeisterung.

Heute reißen sich die großen Konzerthäuser in Deutschland um die Konzerte mit dem nationalen Kinder- und Jugendorchester Venezuelas unter seinem charismatischen Dirigenten Gustavo Dudamel.

Dieses Orchester ist ohne Zweifel eines der besten Kinder- und Jugendorchester der Welt. Unter 200 Mitwirkenden tritt es gar nicht auf, und trotzdem spielen die zwischen 12 und 20 Jahre alten Musiker mit unglaublicher Präzision. Das Einzigartige dieses Orchesters ist jedoch die Ausstrahlung, die von diesem Ensemble ausgeht, seine ungeheure Intensität, seine Spielfreude, die gemeinsame Lust am Musik machen bis ins letzte Pult. Alle Mitglieder dieses Orchesters spielen ohne Angst, einen Fehler zu machen, jede Note, jeder Takt wird mit vollem Risiko und damit auch mit voller Hingabe interpretiert.

Sehr verehrter Maestro Abreu, allein dieses Orchester wäre es Wert, Sie in den illustren Kreis der Frankfurter Musikpreisträger aufzunehmen. Aber dieses Orchester steht ja für etwas sehr viel Größeres: Hinter diesem Orchester steht „el sistema“, die Stiftung der venezolanischen Kinder- und Jugendorchester.

Um wirklich würdigen zu können, was Sie, verehrter Maestro Abreu, geschaffen haben, muss man noch einmal zurück in das Jahr 1975 gehen. In Venezuela gab es zwei professionelle Sinfonieorchester, und gerade einmal fünf Prozent der Mitglieder dieser Orchester kamen aus Venezuela. Angeblich in einer Garage (ich hoffe, diese Garage ist inzwischen unter Denkmalschutz gestellt), trafen sich am 12. Februar 1975 15 junge venezolanische Musiker zu einer ersten Orchesterprobe. In der nächsten Probe waren es 25, dann 45, dann folgten erste Konzerte, eine Tournee, der Gewinn eines Preises bei einem Wettbewerb, Anerkennung der Regierung, weitere Förderung und die Gründung weiterer Kinder- und Jugendorchester.

Es war ein „Start up“ aus der Garage, und dieser Start up hält seit über 30 Jahren an und entwickelt sich immer noch mit ungeheurer Dynamik weiter. Inzwischen gibt es in Venezuela 90 Musikschulen, deren Dienste täglich von über 250.000 Kindern in Anspruch genommen werden. Diese Kinder spielen in 125 Jugendorchestern, in 60 Kinderorchestern, gleichzeitig gibt es mehr als 1.000 Chöre. Aus den zwei Sinfonieorchestern Venezuelas sind mittlerweile 30 professionelle Sinfonieorchester geworden, und in den Musikschulen unterrichten über 15.000 Musikschullehrer. Wenn man bedenkt, dass Venezuela gerade mal 30 Prozent der Einwohnerzahl Deutschlands hat, dann ist dieses Land gerade dabei, Deutschland als das „Land der Musik“ mit seiner weltweit einzigartigen Infrastruktur an professionellen Orchestern, mit seinem weitverzweigten Musikschulsystem zu überholen.

Das venezolanische Konzept hat sich inzwischen als so erfolgreich erwiesen, dass es mittlerweile von fast allen Ländern Lateinamerikas übernommen wurde. Seine Ideen haben ähnliche Konzepte in Kalifornien angeregt, in Boston, in New York, in Cleveland, in Schottland, in Italien. Und auch bei uns in Deutschland wäre die große Initiative „Jedem Kind ein Instrument“ – in die 50 Millionen Euro investiert werden, nicht denkbar ohne das große Vorbild aus Venezuela, das vor allem unsere Politiker überzeugt hat.

Was ist nun das Besondere am sistema, an der venezolanischen Kinder- und Jugendorchesterbewegung? Das eine sind die beeindruckenden Zahlen, aber dahinter steht ja auch ein einzigartiges Modell.

Jedes Kind, das in Venezuela ein Orchesterinstrument lernt, macht dies in der Gruppe und wird von Anfang an in Ensembles integriert. Niemand übt alleine im Kämmerchen, bis er dann nach drei Jahren auf der Geige endlich so weit ist, dass er mal im Orchester mitspielen darf. In Venezuela ist Musikmachen von Beginn an ein sozialer Akt. Das Orchester ist der Ort von Gemeinsamkeit und Motivation, dort lernt man aufeinander zu hören, dort lernt man sich gegenseitig zu respektieren und dort spürt man im gemeinsamen Musikerleben, warum es Sinn macht zu üben.
Ein großes Problem beim Aufbau dieses großen Jugendorchestersystems und bei seinem schnellen Wachstum war die Suche nach geeigneten Lehrern. Die Lösung ist sehr pragmatisch: Jeder Schüler wird nach kurzer Zeit zum Lehrer. In Venezuela ist es selbstverständlich, dass die erfahrenen Schüler ihr Wissen an die weniger erfahrenen weitergeben. Das birgt natürlich auch Probleme, aber es festigt das Selbstbewusstsein, es fördert die Reflektion und vertieft das soeben selber Gelernte (weil man es erklären muss) und es fördert vor allem die Gemeinsamkeit, das Verantwortungsgefühl. 

Und natürlich spielt Leistung eine Rolle, sonst wäre das Niveau, auf dem die Kinder spielen, undenkbar. „Ich verlange von meinen Kindern stets nur das Allerbeste“, haben Sie gesagt. Und auch das Orchestersystem ist auf Leistung ausgerichtet: Man fängt im Vororchester an, wer gut ist darf in das nächst höhere Orchester aufsteigen, im Regionalorchester mitspielen, und natürlich träumen alle Kinder davon, vielleicht mal einen Platz im berühmten nationalen Kinder- und Jugendorchester des Landes Venezuela zu bekommen, das dann die großen Tourneen durch die ganze Welt machen darf und von den großen Dirigenten unserer Zeit dirigiert wird.

Wir können also festhalten: In der venezolanischen Jugendorchesterbewegung lernen die Kinder nicht nur ein Instrument zu spielen, – sie lernen unendlich viel mehr: Sie erleben ein Gemeinschaftsgefühl, aufeinander zu hören, sich einzufügen, sie übernehmen Verantwortung als Lehrer, sie lernen Gefühle zuzulassen und zu artikulieren – und damit ihre Persönlichkeit zu entwickeln, sie erfahren, dass sie etwas erreichen können, wenn sie sich anstrengen und bei ihnen wachsen Selbstvertrauen und der Glaube an sich selbst, auch weil andere an sie glauben. Und wenn wir das alles hören, dann erstaunt es eigentlich nicht mehr, wenn wir erfahren, dass die Mittel für das sistema in Venezuela nicht aus dem Kulturetat sondern aus dem Sozialministerium kommen. Das Sistema ist ein groß angelegtes Sozialprojekt. Der Großteil der Kinder und Jugendlichen kommt aus schwierigen Verhältnissen, ist in den Slums von Caracas und der anderen Städte Venezuelas aufgewachsen, unter für uns Europäer unvorstellbaren Verhältnissen. Deshalb ist der Unterricht kostenlos. Jeden Nachmittag kommen die Kinder ins Musikzentrum, um zu üben, um unterrichtet zu werden und um Orchester zu spielen. Es ist oft das einzige Angebot, das die Kinder der Barrios bekommen, um der tödlichen Spirale von Gewalt, Prostitution oder Kriminalität zu entkommen. Viele Mitglieder auch des nationalen Orchesters haben erzählt: Ohne die Orchester säßen sie jetzt im Gefängnis oder wären gar nicht mehr am Leben.

Und hier möchte ich gerne Sie selber mit einem längeren Zitat zu Wort kommen lassen: „Es geht mir immer darum, den jungen Menschen eine umfassende ganzheitliche Erziehung angedeihen zu lassen. Es geht mir zunächst nicht um die Erziehung der intellektuellen Fähigkeiten, wie es das Erziehungssystem lange Zeit vorsah. Es geht darum, die Erziehung junger Menschen darauf zu richten, was ihre seelische Sensibilität fördert, ihren geistigen Horizont, die Welt ihrer Gefühle und ihre Ausdrucksfähigkeit erweitert – eine Ausdrucksfähigkeit, die ihnen durch Musik den Zugang zu ästhetischen Werten eröffnet. Ästhetische Werte sind wiederum die Grundlage ethischer Werte. Ästhetik und Ethik liegen nämlich ganz nah beieinander. Die Welt der Schönheit und die Welt der Wahrheit sind unauflöslich miteinander verbunden. Der junge Mensch, der Zugang zur ästhetischen Seite des Menschen hat, hat auch Zugang zur ethischen Dimension des Daseins. Chor und Orchester sind Gemeinschaften, in denen Kinder und Jugendliche zusammenkommen, um gemeinsam und miteinander Schönheit zu schaffen. Dieses Ziel ist das Erhabenste, das eine Gesellschaft überhaupt haben kann. Es geht darum durch die Schönheit edle, große Werte zu schaffen, alles was gegen den Raub, die Gewalt, die Prostitution, gegen die heutigen Bedrohungen der Jugend und Kindheit weltweit steht. Für die Kinder, mit denen wir arbeiten, stellt die Musik fast den einzigen Weg zu einem menschenwürdigen Dasein her. Armut – das heißt: Einsamkeit, Traurigkeit, Anonymität. Orchester – das heißt: Freude, Motivation, Teamgeist, Streben nach Erfolg. Wir sind eine große Familie auf der Suche nach Harmonie und nach jenen schönen Dingen, die alleine die Musik den Menschen zu bringen vermag. Stellen wir uns vor: Jeder Stadtteil, jedes Dorf in Venezuela hat einen eigenen Sportplatz, einen eigenen Chor und ein eigenes Orchester. Das wäre großartig: freier Zugang zur Kunst für alle Kinder Venezuelas, Lateinamerikas und der Karibik. Ende des 18. Jahrhunderts startete in Europa die industrielle Revolution, die die Welt veränderte. Jetzt sind wir an der Reihe mit einer großen humanistischen und kreativen Revolution durch die Kunst in Lateinamerika.“

Eine Revolution mit dem Ziel einer besseren Welt durch die Kunst... wie schön, dass ich in Zeiten der Krise solche Gedanken öffentlich sagen kann!

Sehr verehrter Herr Abreu, das finde ich eigentlich das Wunderbarste an Ihnen. Sie sind ein großer Träumer. Sie haben sich die Fähigkeit zu träumen erhalten, Sie besitzen den Mut, diese Träume ernst zu nehmen und Sie haben die Durchsetzungsfähigkeit, Ausdauer und das Geschick, diese Träume dann auch Wirklichkeit werden zu lassen. Und damit machen Sie nicht nur Ihren Kindern, sondern auch uns Mut, uns an unsere Träume zu trauen. Dafür können wir Ihnen nur unendlich dankbar sein.
Ich gratuliere Ihnen von Herzen zum Frankfurter Musikpreis.

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