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Weltläufig

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Alfred Schnittke: Klavierkonzerte
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Einhundert und ein halbes Jahr schon ist der Begriff „neue musik“/Neue Musik/neue Musik eine Art Kampfbegriff. Und je nach ästhetischer Einstellung eine Art Waffe im intellektuellen Stellungskrieg. Da wird dann niedergemacht nach guter alter Gutsherrenart oder hochmanipuliert, was die zeitgeistige Konstellation so hergibt. Ob dann im Einzelfall etwas wirklich neu ist – und ob irgendetwas irgendwie Neues um jeden Preis des Neuen in den Markt, der es dann schon richtet, gedrückt werden muss, bleibt als Frage unbeantwortet. Immerhin eignen sich die Kategorien alt oder neu bestens fürs Schmähprogramm, so nach dem Motto neu ist gut und alt ist schlecht.

Der Wirksamkeit solcher Ideologie sah sich auch der deutsch-russische Komponist Alfred Schnittke (1934–1998) ausgesetzt. Ungeachtet diverser Anfeindungen arrangierte er sich im Gefolge von Anton Weberns fest-und-locker-Kontrast-Konzept mit seiner eigenen musikalischen Weltsicht und verließ sich mehr auf sich selbst als auf die Vorgaben der Ideologen in Ost wie in West. Dabei ist eine Musik entstanden, die sich nicht ausgrenzt aus einem historischen Zusammenhang. Das ist eine Musik voller assoziativer Zitier- und Variationenfreude am Zitierten, eine höchst rhythmisierte und schräge und melodiöse und temperamentvolle und eigengesetzliche und nachdenkliche und impulsive Musik, die ihre Individualität im Clinch zwischen stalinistischer Indoktrination und westlicher Serialität, zwischen Programmvorgaben und anything goes, zwischen der Maxime, höchst einfache und dergestalt höchst verständliche Musik schreiben zu müssen und dem Experiment im Studio für elektronische Musik höchst individuell herausgearbeitet und unter solchem Druck zur Unverwechselbarkeit auskristallisiert.

Schön erkennbar ist das an den drei Klavierkonzerten von 1960, 1979 und 1988. Das erste erinnert an Béla Bartók, schlaginstrumentenselig und rhythmusverliebt, das zweite, neunzehn Jahre später und in politisch anderer Umgebung entstanden, liefert Tiefgang. Da bedarf es keines neuen Stils, keiner Tiefbohrinstanz, um direkt und originell mit dem Publikum kommunizieren zu können, so wie Soloinstrument und Orchester das vorleben. Im dritten Konzert ist Vierhändigkeit vorgeschrieben, für die Gattin und für die Gattin des Freundes Roshdestwenski, für Viktoria Postnikowa. Dieses mehrsätzig-einsätzige Opus verlangt intime Nähe am „Doppelklavier“, ätherische Glocken im Widerstreit mit fulminanter Orchesterwildnis fallen sich ins Wort, stellen ihre Fragen wild gegeneinander und übereinander, um zuletzt in „zeitweiliger Versöhnung zueinander zu finden. Was wäre wohl das Ergebnis  bei einer nächsten Befragung – falls sie überhaupt käme?“

Ewa Kupiec, die umbrische Münchnerin und Maria Lettberg, die schwedische Berlinerin, meistern die Partitur für vier Hände fulminant, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin begleitet vorbildlich temperamentvoll und den geforderten Kontrasten folgend virtuos. Den unterschiedlichen Anforderungen der beiden anderen Konzerte erweist sich Ewa Kupiec emotional und analytisch und technisch in jeder Hinsicht bestens gewachsen, wenn nicht gar überlegen. Der filmmusikerfahrene Münchener Dirigent Frank Strobel mit Babelsberg-Affinität gibt dieser SACD die nötige Weltläufigkeit. Ihm gelingt die Verknüpfung von intellektuellem Anspruch mit emotionaler Emphase mit analytischer Klarheit.

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