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Wenn die Dozenten zum Puls-Tanz bitten

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Zu Besuch beim 47. Kammermusikkurs “Jugend musiziert“
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Hier wird tatsächlich Luftklavier gespielt! Zeuge dieses Ereignis wurde man beim 47. Kammermusikkurs “Jugend musiziert“ in der Landesmusikakademie Sondershausen. 47 Teenager zwischen 13 und 19 Jahren waren für 14 Tage dorthin gekommen, um hier intensiv Werke der Kammermusik zu studieren. Angeleitet wurden sie dazu von acht erfahrenen Profimusikern. Und weil zu jedem Trainingslager auch ein Ziel gehört, standen am Ende der 14 Tage drei öffentliche Konzerte, in denen einige dieser Werke öffentlich präsentiert wurden. Soweit die Rahmenbedingungen.

Wer sind die 47? Besondere Hochbegabungen? Mag sein, aber das ist kein entscheidendes Auswahlkriterium für den Kurs. Wer sich hier anmeldet, wird getrieben von Neugier wie ein Höhlenforscher auf unbekanntes Terrain, auf Abgründe und Seitenwege. So jemanden bewegt ein tiefes Interesse, eine Leidenschaft für das Musizieren im Ensemble und er ist willens, dafür viel Zeit und Gehirnschmalz zu investieren. In Sondershausen trafen sich eingefleischte Fans der Kammermusik und solche, die es werden wollten. Ein weiteres gemeinsames Merkmal gab es überdies: Alle in der Akademie anwesenden Jugendlichen hatten einen Bundespreis „Jugend musiziert“ in der Tasche. Entweder aus diesem oder aus vergangenen Jahren. Er ist die Eintrittskarte in die fabelhafte Welt der Kammermusik.

Luftklavier also. Angelika Merkle, Professorin für Klavier-Kammermusik an der Musikhochschule Frankfurt am Main spielt auch dieses Instrument virtuos, als sie Kathrin unter Einsatz von Händen und Füßen zeigt, was „Molto allegro agitato“ in Felix Mendelsohn Bartholdys Klaviertrio Nr. 1 in d-Moll bedeutet. Weil Kammermusik mit Vernetzung zu tun hat, schwitzt das gesamte Trio an diesem kühlen Tag, sobald die Pianistin die Aufgabe umzusetzen beginnt. Keine Sekunde darf die Konzentration nachlassen, sonst ist der Anschluss an die anderen Musiker weg, der dicht gewebte Klangteppich reißt. „Ihr müsst im Trio denken, begegnet Euch im Ensemble“ lautet ein wiederkehrender Ruf der Dozentin in die forte-Stellen hinein. Am Ende des ersten Satzes ertönt der begeisterte Ruf „Super!“, und Kathrin, Katharina, die Geigerin und Charlotte, die Cellistin strahlen übers erhitzte Gesicht. 

Fünf Tage zuvor, am Nachmittag des 25. Juli, hatten die drei Musikerinnen das Klaviertrio op. 49 zum ersten Mal intoniert, nachdem sie sich überhaupt erst am Vorabend kennengelernt hatten. Denn in den meisten Fällen reisen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Solisten an und werden erst vor Ort in Ensembles eingeteilt. Möglichst drei Ensemblebesetzungen soll jeder von ihnen kennenlernen. Aber auch bestehende Ensembles, in diesem Jahr waren es zwei, sind willkommen. Angelika Merkle zeichnete als künstlerische Leiterin des Kammermusikkurses 2011 für die Werk- und Besetzungsliste verantwortlich. 

Das Kammermusik-Mannschafts-Gefühl

Wer schon einmal versucht hat, am Strand spontan mit zwei wildfremden Menschen ein Beach-Volleyball-Match zu bestreiten, weiß, dass es eine Zeit des Vertrautwerdens miteinander braucht, um eine gemeinsame Erfolgsstrategie zu entwickeln. Das Mannschaftsgefühl beginnt erst im Laufe des Spiels zu wachsen. Nicht anders ist es im Kammermusikkurs. Wenn auch die Teilnehmer immerhin ähnliche technische Kenntnisse voraussetzen können: Charlotte, Katharina und die 45 anderen Musikerinnen und Musiker betreten die Musikarena in Sondershausen wohl vorbereitet. Zum Kammermusikkurs beworben hatten sie sich bereits im März, Anfang Juni hatten sie die Zulassung erhalten, wenig später auch die Noten für drei der insgesamt 26 Werke, die sie im Kurs bis zur Konzertreife erarbeiten werden. Fünf Wochen Vorbereitungszeit also im stillen Kämmerlein für drei Werke mit drei oder vier Sätzen. 

Der Start zum großen Abenteuer Kammermusik fällt in die letzten Wochen vor Beginn der großen Ferien, in der Schule stehen die letzten Klausuren an oder Abschlussprüfungen. Und dann auch noch die Nase in Ligetis „Sechs Bagatellen für Bläserquintett“ stecken, in Haydns Streichquartett in C-Dur oder Dvoraks Klavierquartett Nr. 2 in Es-Dur op. 87? Über so viel Disziplin und Ausdauer kann man nicht nur als Laie ausgiebig staunen. Andererseits: Wann hat man schon die Gelegenheit auf diesem Niveau und ohne großen Reiseaufwand im Sextett oder Oktett zu spielen?

Ob die einzeln geübte Technik zum Zusammenspiel reicht, ob die Mitspieler Bewegungen richtig deuten und entsprechend agieren, das allerdings weiß man erst, wenn man das Erlernte im Ensemble ausprobiert. Um den Notentext zu lernen, hilft nur wiederholtes Üben, genaues Hören, zur Not auch das Stimmgerät. Oft steht auch der eigene Lehrer noch mit letzten Tipps parat. Aber wenn alle nur richtig spielen, ist das noch lange kein Ensemblespiel. 

Beherzt intoniert

Das stellen auch die acht Mitwirkenden an der Serenade Nr. 12, c-Moll von W.A. Mozart fest. Raphael, Simon, Magdalena, Luca, Raphael, Jacob, Leah und Hannah stehen im Halbkreis um Henrik Rabien, den Dozenten, im Brotberuf Fagottprofessor an der Frankfurter Musikhochschule und Solo-Fagottist im WDR Sinfonie Orchester. Beherzt intoniert das Ensemble die ersten Takte dieses Mozart-Oktetts, aber irgendwie scheint doch jeder für sich allein zu spielen, vor allem darauf bedacht, die Phrasen zeitgleich mit den anderen Musikern zu beenden. Es klingt nicht „schön“, auch wenn es richtig klingt. „Zunächst müsst ihr mal herauskriegen, wer an welcher Stelle mit wem zusammenspielt, wer auf wen hören muss. Wenn das klar ist, reden wir über das Tempo“, sagt Rabien. Einige Intonations-übungen machen den Musikern untereinander deutlich, wohin der Blick gehen muss, wer denselben Ton spielt, wer die Terz oder die Quinte. So lernen die Musiker nicht nur zuzuhören, sondern auch, wie wichtig es ist, sich dem „Partner für einen Takt“ körperlich zuzuwenden. Für ein paar Augenblicke ist der Unterricht ein bisschen frustrierend, aber nur ein unsportlicher Tropf schmisse jetzt den Volleyball in die Ecke und verließe das Feld. Bei den acht versammelten Musikern ist die Neugier auf den „wahren Klang“ viel zu groß. „Bei Mozart hört man halt alles durch, es ist so schwer zu spielen, man kann sich nicht durchmogeln wie bei vielen zeitgenössischen Stücken“, sagt Raphael, der Hornist. 

Zu heikel, zu bekannt?

Da klingt sie wieder durch, die Angst vor den Komponisten der Wiener Klassik, die auch im Wettbewerb “Jugend musiziert“ inzwischen beinahe unter „Kulturschutz“ gestellt werden müssten. „Zu heikel“, „Man kann nur verlieren“, „zu bekannt und daher besonders streng bewertet“, sind die gängigsten Warnungen der Lehrer. Hier aber im Kammermusikkurs nähert man sich ihnen ohne Furcht. Denn erstens geht es um nichts als den „Flow“, wenn die Musik gelingt. Zweitens werden alle jugendlichen Aktivitäten von den acht Profis souverän flankiert. Sie führen sie so sicher durch Mozart, Beethoven oder Haydn wie ein Skilehrer seine Gruppe über eine schwarze Piste. Neben Henrik Rabien und Angelika Merkle sind alle Mitglieder des Fauré-Quartetts als Dozenten im Kurs vertreten: Die Geigerin Erika Geldsetzer, der Bratscher Sascha Frömbling, der Cellist Konstantin Heidrich und der Pianist Dirk Mommertz. Bereichert durch Martin Spangenberg, Professor für Klarinette an der Hochschule in Weimar und Volker Jacobsen, Professor für Bratsche an der Musikhochschule Hannover. Sie alle begegnen diesen großen Werken furchtlos, liebevoll und wissend, wie man eben guten alten Freunden begegnet, mit denen man schon viel erlebt hat. So ermutigen sie die Jungen, die Schönheit in der Musik zu entdecken und die Mühe dafür in Kauf zu nehmen.

Mut zum Musizieren

Überhaupt spielt Mut eine große Rolle im Kammermusikkurs: Mut zum Musizieren, Mut, die Rolle im Ensemble auszufüllen, auch Mut, die Anregung der Dozenten zu durchleuchten und zu einer eigenen, gar anderen Meinung zu kommen. Wie das Schüler-Lehrer-Gefälle allmählich einem partnerschaftlichen Austausch über den Notentext weicht, machen Caroline, Xenia Shih-Yu und Nina vor. Die vier arbeiten am Streichquartett Nr. 1 von Erwin Schulhoff. Der Coach ist Sascha Frömbling. Er hört diesem Ensemble auf lange Strecken zu und macht sich Notizen. Für Unterbrechungen sorgen die vier jungen Frauen selbst, ein Bogenstrich ist zu klären, die Viola bittet die erste Geige um ein deutlicheres Zeichen für ihren Einsatz. Es geht sachlich, versiert und sehr selbstständig zu. Frömbling gibt auf Nachfrage kleine technische Hilfen zum Fingersatz, interpretatorische Fragen klären die vier Musikerinnen allein und diskutieren auf Augenhöhe mit ihm Fragen zum Klang und zum Puls. Seit knapp einem Jahr spielt das Quartett in dieser Besetzung zusammen und bereitet sich im Rahmen des Kammermusikkurses auf einen weiteren Wettbewerb vor. 

„Es ist ein großer Unterschied im Arbeiten, wenn nicht mehr der Notentext das Thema ist“, sagt Sascha Frömbling. „Nach solch einer Unterrichtsstunde habe auch ich neue Impulse erhalten.“ Und fordert dann das Quartett zum zweiten Satz auf. „Der ist cool“, „Er ist so schwer“. „Man muss halt üben“, lauten die spontanen Reaktionen. 

Besonders der letzte Ausruf enthält eine Wahrheit, die weit über den Kammermusikkurs 2011 hinaus reicht.  

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