Hauptrubrik
Banner Full-Size

Wie der Turm: Schieflage der PISA-Studie

Untertitel
Test mit Schwächen – alle Schüler in einen Sprachtopf?
Publikationsdatum
Body

Das hätte man den armen Deutschen nicht antun dürfen: ihnen wissenschaftlich untermauert und auf internationalem Parkett zu bescheinigen, dass es mit ihrem Nachwuchs intellektuell nicht so weit her sei. Gelten sie nicht weltweit als Volk der D & D (Dichter und Denker), und nun sollen sie d & d (dösig & deppert) sein? Zumindest der „Spiegel“ („Sind deutsche Schüler doof?“) ließ Derartiges befürchten.

Jede(r) fühlte sich berufen, den nationalen Bildungsnotstand auszurufen, zu versichern, dass das Ergebnis nicht überrascht habe und dass man sich eigentlich in seinen bisherigen kulturpolitischen Forderungen bestätigt fühle. Noch nie wurden innerhalb kürzester Zeit so viele Vorschläge in die Diskussion geworfen: Durchaus Diskutables (Ganztagsschule, Gesamtschule, gezielte Sprachförderung im Vorschulbereich, natürlich eine radikale Reform der Lehrerbildung), Rundumschläge (Abschaffung der Kultusministerkonferenz) oder Possierliches (Verlegung des Unterrichtsbeginns von 8.00 auf 9.00 Uhr, so ein Münchener Stadtrat).

Das Problem dieser neuen Bildungsdebatte, von der noch nicht abzusehen ist, ob und was sie Positives bewirken wird: PISA hat recht, die Ergebnisse der 15-jährigen Deutschen sind (relativ) schlecht, in kaum einem anderen Land ist die Schule so wenig geeignet, das Schicksal ungleich anregender, ungleich fördernder Elternhäuser auszugleichen. Aber ebenso gravierend ist das Problem, dass die allermeisten Kommentatoren sich bei der Suche nach den Ursachen (vor allem für das deutsche Ergebnis!) in einem ziemlich unübersichtlichen Gestrüpp von vielfältigen Bedingungsfaktoren (und politisch eingeflüsterten Patentrezepten) verheddern und deshalb zu allen möglichen Konsequenzen, kaum zu den richtigen, gelangen. Dabei drängt sich eine Erklärung für die bescheidene Leistung des deutschen Nachwuchses geradezu auf, die von den Autoren des Berichtes allerdings wie eine heiße Kartoffel behandelt wird.

Die PISA-Studie, die zweifellos professionell konzipiert und durchgeführt wurde, ist mit einem methodischen Problem behaftet, das in dem umfassenden Bericht nicht verschwiegen, aber doch verharmlost, von den Verantwortlichen in Interviews heruntergespielt wird. Ein außerordentlich wichtiger Faktor für das Abschneiden im PISA-Test ist nämlich die Tatsache, ob der Test in der Muttersprache der Jugendlichen durchgeführt wird oder nicht. Dies gilt für die Lesefähigkeiten natürlich in ganz besonderem Maße, wirkt sich aber auch bei mathematischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen aus. Wenn man die Gesamtergebnisse verschiedener Länder vergleichen will, dann muss deshalb auch berücksichtigt werden, wie hoch der Anteil der nicht in ihrer Muttersprache Befragten (kurz: Ausländeranteil) in den verschiedenen Länderstichproben lag. Unter dieser Perspektive wird beispielsweise deutlich, dass der häufig gewählte Vergleich zwischen Finnland (niedriger Ausländeranteil, überragendes Ergebnis) und Deutschland (hoher Ausländeranteil) eigentlich nicht zulässig ist. Man müsste nämlich hochrechnen beziehungsweise separat ermitteln, wie die Ergebnisse ausgefallen wären, wenn Schüler mit fremder Muttersprache („mit minoritätssprachlichem Hintergrund“) und dadurch bedingten Startnachteilen, unberücksichtigt blieben. Genau das haben die Autoren an einer(!) Stelle getan und kamen zu folgendem Ergebnis: „Die Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern mit majoritäts- und minoritätssprachlichem Hintergrund hinsichtlich der mittleren Punktzahl im Bereich Lesekompetenz beeinflussen eindeutig das Gesamtergebnis der Länder in diesem Sektor. Wenn es Deutschland zum Beispiel gelänge, die mittleren Punktzahlen der minoritätssprachlichen Schülerinnen und Schüler auf das Niveau der majoritätssprachlichen anzuheben, würde die mittlere Punktzahl dieses Landes im Bereich mathematische Grundbildung über dem OECD-Durchschnitt von 500 Punkten liegen und nicht 10 Punkte darunter.“ (S.183)

Die Autoren haben es jedoch relativ versteckt formuliert und kaum etwas dazu beigetragen, dass dieser Aspekt in der öffentlichen Diskussion nennenswert zum Tragen kam. Hat man die Fettnäpfchen gefürchtet, in die man treten könnte, wenn man die Devise ausgegeben hätte: „Schulstudie: Ausländerkinder drücken deutsche Platzierung“? Genau dies war die relativ späte Schlagzeile der „Welt“ im Januar 2002! Ist man nun ausländerfeindlich, gar reaktionär, wenn man dieser Erklärung zentrales Gewicht beimisst?

Die große Bedeutung der sprachlichen Kompetenz (und die Ignorierung dieses methodischen Problems) zeigt sich auch an den Ergebnissen von Luxemburg und Belgien. Die Luxemburger Jugendlichen mussten wählen, ob sie sich dem Test auf deutsch oder französisch unterziehen wollen, eine luxemburgische Version wurde (aus welchen Gründen auch immer) nicht eingerichtet. Der europäische Zwerg landete in allen drei untersuchten Bereichen abgeschlagen auf dem drittletzten Platz der OECD-Hitliste! Die Verhältnisse in Belgien mit seiner eigenwilligen flämisch-wallonischen Sprachenlandschaft waren so kompliziert, das ihnen im Anhang ein eigenes Kapitel gewidmet wurde.

Die PISA-Studie erlaubt sinnvoll keine bilateralen Ländervergleiche, solange die unterschiedlich hohen Ausländeranteile der einzelnen Nationen nicht angemessen berücksichtigt werden. Es hätte nichts dagegen gesprochen, jeweils ein zweites Ranking nur mit den muttersprachlichen Jugendlichen zu veröffentlichen. Stattdessen hat man – sowohl im Bericht wie auch in der öffentlichen Diskussion – einen großen Bogen um jene Stelle gemacht, an der man besagtes Fettnäpfchen vermutete.

Die PISA-Studie erlaubt aber sehr wohl die Aussage, dass das bundesdeutsche Bildungssystem im Vergleich mit anderen Ländern (z.B. Schweden) wenig geeignet ist, die ihr anvertraute Schülerschaft, und hier insbesondere die Jugendlichen mit minoritätssprachlichem Hintergrund, angemessen zu fördern. Deshalb muss die wichtigste Konsequenz aus den Ergebnissen dieser Studie dahin gehen, Migrantenkinder angemessen zu unterrichten. Das Benennen der „schwarzen Schafe“ ist deshalb „ausländerfreundlich“, weil sich nur in Kenntnis dieses Sachverhalts die notwendigen schulpolitischen Maßnahmen werden durchsetzen lassen.

Sind die D & D nun d & d? Die Enkel der D & D, also die muttersprachlich in Deutschland Aufgewachsenen, sind es sicher nicht (was nicht ausschließen soll, dass auch für sie Unterricht verbesserungsfähig ist). Die Migranten sind ebenfalls nicht d & d sondern in dem Sinne benachteiligt, wie es auch deutsche Schüler im Ausland wären. Als d&d könnte sich höchstens die Schul- und Bildungspolitik erweisen, wenn sie aus der an sich erfreulichen Diskussion die falschen Schlüsse zieht.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!