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Foto: Stefan Pieper
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„echt krass, und danke für die infoss“

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WDR, NRW-Schulen und -Hochschulen wagen das „Das Ligeti-Experiment“
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Thema der bundesweiten „ARD Woche der Musik“ Ende März war in NRW György Ligeti. Anlässlich des hundertsten Geburtstags des 2006 verstorbenen Komponisten gab es an vier weiterführenden Schulen in Köln, Brühl, Zülpich und Essen Unterrichtsreihen, Projekttage, Ausstellungen und Präsentationen. Durchgeführt wurden die Veranstaltungen von Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln unter musikpädagogischer Anleitung von Anna Rizzi, Stephanie Riemenschneider und Katharina Höhne. In Kooperation mit dem WDR gab es zudem Workshops im Kölner Funkhaus, ein Abschlusskonzert in der Kölner Philharmonie sowie Unterrichtsmaterial auf der Website der WDR Musikvermittlung.

Ligeti hätte am Durcheinander in der Aula der Kölner Kaiserin Augusta Schule sicher seine Freude gehabt. Die versammelten Schülerinnen und Schüler sprechen mit je eigenen Tonhöhen, Rhythmen und Lautfolgen wild durcheinander wie die achtzigstimmige Mikropolyphonie in seinem Orchesterwerk „Atmosphères“. Die sanft an- und abschwellende Gesamttextur lässt mal hier Stimmen von Mädchen, mal dort von Jungs hervortreten sowie vereinzeltes Lachen, Stuhlrücken, zu Boden polternde Handys. Schließlich setzt johlender Applaus ein und los geht die Bühnenshow zu Ligeti und dessen Sechs Bagatellen für Bläserquintett.

Die 11. Klasse des Gymnasiums hatte mit Musiklehrer Daniel Schindler eine Unterrichtseinheit zu elektronischer Musik durchgenommen und im WDR eine Visualisierung von Ligetis Chorwerk „Lux aeterna“ erlebt. Jetzt machte vor versammelter Klassenstufe eine junge Moderatorin neugierig, „Ligeti hatte echt krassen Einfluss auf die Musik“. Im über Beamer mitzulesenden WhatsApp-Chat tauscht man sich erst einmal darüber aus, was „Bagatellen“ und „Bläserquintett“ überhaupt sind. Und weil man auch über den Komponisten nichts weiß, „wer ist der typ eigentlich?“, kontaktiert man ihn am bes­ten gleich selbst: „ey ligeti kannst du mal was über dein leben erzählen? warum warst du in köln?“ Und prompt schickt der Komponist kurze Sprachnachrichten und will schon ins Plaudern geraten, als er gebremst wird: „ok, reicht Ligeti!“

Abwechselnd mit dem Chat spielen Jungstudierende der Essener Folkwang-Universität Ligetis frühes Bläserquintett. Zur zweiten Bagatelle gibt es ein kleines Bewegungstheater. Die Motivzelle der dritten Bagatelle wird in einem selbst getexteten Rap „Auf und davon“ aufgegriffen. Und persönliche Eindrücke von der fünften Bagatelle visualisiert ein Cartoon mit Figuren und Graphiken. Anhand der sechsten Bagatelle klärt man den Begriff „Dissonanz“ und darf Ligeti erzählen, dass dieser Schlusssatz 1953 wegen zu vieler harmoniefremder Töne verboten war. Beim Schulpublikum kommt alles prima an: „echt krass Ligeti, und danke für die infoss“.

Drei Tage später besuchen die Schulklassen das Abschlusskonzert in der Kölner Philharmonie. Die Vorstellung beginnt eine Stunde früher als sonst üblich, dauert ohne Pause eineinhalb Stunden und bietet statt Programmheft cooles farbiges Licht sowie Bild- und Videoprojektionen. Durch das Programm führt Moderator Johannes Büchs, bekannt aus der „Sendung mit der Maus“ und „Kann es Johannes?“ im KiKA. Doch bevor man viele Worte verliert, lauscht man erst einmal gemeinsam Ligetis „Lontano“, wo sich der schwebende Einklang von vier Flöten nach und nach zum vollen Tutti auffächert. Dazu sieht man historische Filmdokumente aus Köln sowie vom Studio für elektronische Musik und WDR Sinfonieorchester. Anschließend äußert sich Ligeti in einem Interview von 1967, dass er mit diesem Orchesterstück die Absicht gehabt habe, „Enttäuschung zu komponieren“. Der provokante Satz begeistert spontan das junge Publikum. Offenbar ist hier ein Trotzkopf am Werk, der nicht erfüllen will, was man von ihm erwartet. Statt langweiliger Melodien, Harmonien und Rhythmen schreibt er lieber wechselseitig sich überlagernde Liegetöne. Der Bassklarinettist demonstriert einen möglichst leisen und lange gehaltenen Ton. Und der Fagottist zeigt, wie schön weich sein Instrument mit einem ins Rohr gestopften Tuch klingt.

Ein Video liefert Informationen zu Ligeti und besonders über seine Zeit in Köln ab 1957, mit Stockhausen, im WDR-Studio und bei der Uraufführung von „Apparitions“ im WDR-Sendesaal beim IGNM-Weltmusikfest 1960. Zum folkloristisch-klassizistischen Frühwerk „Concert Românesc“ von 1951 zeichnet dann Iryna Bilenka-Chaplin auf einem durchleuchteten Glastisch in Windeseile mit Sand wunderbare flüchtige, weil ständig weiter- und übermalte Bilder von erstaunlicher Plastizität: Burgen, Bauernhöfe, Gesichter, Liebespaare, Blumen.

Fasziniert lauscht das junge Publikum auch Béla Bartóks Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“. Während die Uraufführung der Pantomime 1926 an der Oper Köln skandalisiert wurde, kommt der anti-klassische Gestus hundert Jahre später sehr gut an: energetisch, motorisch, körperlich, atmosphärisch. Das WDR Sinfonieorchester unter Leitung von Roderick Cox spielt mitreißend. Den fulminanten Schlusspunkt setzt schließlich Sopranistin Sarah Aristidou mit Ligetis „­Mysteries of the Macabre“. Die Arie ist ein exaltierter Nervenzusammenbruch mit Stottern, Keuchen, Lachen, klirrenden Spitzentönen und irrwitzigen Kapriolen.

Die Zusammenarbeit von Schulen, Hochschulen und WDR war bei „Das Ligeti-Experiment“ ein voller Erfolg. Hoffentlich bleibt es nicht dabei, sondern ist das erst der Anfang für viele weitere Projekte mit neuer Musik für junges Publikum. Denn was mit Ligeti bestens funktioniert hat, geht auch mit Gubaidulina, Nono, Stockhausen, Xenakis und vielen anderen.

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