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Charles Laughton (Quasimodo ) in William Dieterles Film "Der Glöckner von Notre-Dame" von 1949.
Charles Laughton (Quasimodo ) in William Dieterles Film Der Glöckner von Notre-Dame
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Eine ruhespendende Herrin – Gedanken über Victor Hugos Roman „Notre Dame de Paris“ und seine Vertonungen

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Das war fast vorauszusehen: der Brand der Pariser Kathedrale Notre Dame hat nicht nur eine weltweite Anteilnahme und Spendenbereitschaft ausgelöst, sondern als kleinen parallelen Nebeneffekt Victor Hugos Notre Dame de Paris über Nacht zu neuem Sensationsglamour verholfen. Noch während der Löscharbeiten avancierte der Schauerroman in Frankreich zum meistverkauften Buch und führte weltweit die Bestsellerlisten an, gefolgt von der trivialen Disney-Verfilmung des Stoffs.

Da war der deutsch/französische Fernsehsender ARTE schon dezenter, wenn er am 16. 04. vor der (Wiederholungs-)Sendung über die gerettete Cavaillé-Coll-Orgel der Kirche William Dieterles Film Der Glöckner von Notre Dame von 1939 mit Charles Laughton brachte. Nicht nur wegen dessen genialer Darstellung des glockenschwingenden Monsters Quasimodo, sondern wohl auch wegen der ernsthaften Behandlung des religiösen Konfliktes gilt diese Verfilmung als die beste.  Mochte man sich früher an der allzu versöhnlichen Tendenz einiger gegenüber dem Original stark veränderter Charaktere stoßen, so verspürte jetzt vielleicht so mancher Zuschauer angesichts der beklemmenden Brandkatastrophe eine gewisse Erleichterung über das Happy End. Denn der Glöckner Roman endet nicht nur tragisch, sondern Hugos überbordende, gotische Phantasie zitiert mit Karnevalsfratzen, Hexenjagd, Meuchelmorden, Bettlerorgien und Folterszenen das finstere wie grelle Mittelalter herbei, das von da an immer auch einen gewissen Teil der Notre-Dame-Aura mitbestimmt.

Das griechische Wort  „Anankä“(Verhängnis) – der Autor findet es eingeritzt in einem der Türme - bildet die Keimzelle der fiebrigen Handlung. Dieser Hang zur Schwarzseherei, der einst Goethe so abstieß, ist um 1831 dem Zeitgeist mit seiner Nähe zum Schicksalsdrama geschuldet. Hier ist es allerdings keine bloße Horrorvision von künftigem Unheil und Zerstörung dieser mächtigen Kirche - von Hugo eine „ruhespendende Herrin“ genannt - sondern eine Warnung vor der wachsenden inneren Glaubensleere. Im Roman selbst entschlüsselt Anankä die Liebesnöte des Dogmatikers Claude Frollo. Das Verschwinden des Wortes durch Übertünchen bedeutet Hugo zugleich das Schwinden der Metaphysik. Der Autor Jörg Magenau nennt das aktuell ein Gefühl von „transzendentaler Obdachlosigkeit“, die uns angesichts des Flammeninfernos Notre Dames als einer ´gebauten Ewigkeit´ ergreift. Insofern beweist Hugo, der gar im 10. Kapitel eine Flamme zwischen den Türmen emporlodern sieht, seherische Fähigkeiten.

Übrigens zitiert die oscarnominierte Musik des Glöckner-Filmes 1939 von Alfred Newman zweimal eine Floskel aus Franz Schmidts allbekanntem Zwischenspiel aus Notre Dame. Dieses rhapsodisch aufrauschende Stück gilt allerdings nicht der Kirche, sondern ihrem erotischen Widerpart: der schönen Esmeralda, die sich unglücklich in die trügerische Lichtgestalt Phöbus verliebt und das Opfer des zwanghaften Erzdiakons Claude Frollo wird. Trotz ihres hölzernen und klischeehaften Librettos und weitgehenden Mangels an dramatischer Zuspitzung verdiente Schmidts Oper von 1914 einige Aufmerksamkeit, da sie mit einer gewissen Brucknernähe die religiöse Thematik des Romans sinfonisch weiterträgt. Einen oratorischen Höhepunkt bildet die Befreiung Esmeraldas durch Quasimodo und sein Ruf „Asylrecht!“ über dem Chorfugato – diese Szene ist auch ein magischer Moment in Dieterles Film.

Den Weg zur Oper öffnet der Dichter selber: 1836 regt die  junge, selbstbewußte Komponistin Louise Bertin Hugo dazu an, Notre Dame zum Libretto umzuformen. Bertins Oper, nunmehr unter dem Namen La Esmeralda, wird sechsmal ganz gespielt, mit Ballett; ab der siebenten Aufführung werden drei der vier Akte überarbeitet; dann spielt man nur noch den ersten. Der Textdichter Hugo hält sich im Bewußtsein seiner eher konventionellen Arbeit im Hintergrund. Trotz  feuriger Fürsprache von Hector Berlioz, dem man unterstellt, er selber habe die besten Arien der Oper – speziell die akklamierte Glockenarie des Quasimodo – komponiert, ist La Esmeralda  von Louise Bertin ein Misserfolg. In einer Aufnahme von Montpellier kann man sich überzeugen, dass das Werk durchaus einige der ihm von Berlioz attestierten Qualitäten besitzt. Der eher unglückliche Auftakt leitet aber eine Serie von Esmeralda-Vertonungen ein:  ein Ballett des Italieners Cesare Pugni1844 und die Oper Esmeralda des russischen Komponisten Alexander Dargomyzhsky 1847. (Aus ihr haben sich in Russland noch die Ouvertüre und die Arie der Titelheldin aus dem 2. Akt erhalten) Die vom Hugo-Bewunderer Georges Bizet 1858 geplante Esmeralda bildet samt Schicksalsmotiv eine wichtige Vorstufe zu seiner Oper Carmen. Abschließend läßt sich konstatieren, dass Franz Schmidts Vertonung die bedeutendste Oper, das Disney Musical The Hunchback of Notre Dame das beliebteste Massenspektakel unserer Tage darstellt.

Wohlgemerkt: als eigentliche Musik der Notre-Dame-Zeit ist die Kathedralkunst des ausgehenden 13. Jahrhunderts anzusehen: die drei- bis vierstimmigen Liturgien von Meister Perotin und Leonin. Die genannten Opern sind nur ein bescheidener Nachhall jener Zeiten. Als solchen betrachtet wohl auch Hugo seinen Roman, mit dem er, wie er schreibt, dem Wort „Anankä“ ein ´schwaches Andenken´ verleihen will.

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