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Aus Avantgarde Mainstream machen

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Überleben im globalen Fusionsfieber: Die Geschichte von Motor Music
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Für Walter Benjamin, den meistzitierten Kulturtheoretiker der 90er-Jahre war die Sache klar: Es gibt kein Dokument der Kultur, das nicht auch eins der Barbarei wäre. Hinter dem vielbestaunten und -besprochenen Schönen verbirgt sich das Schreckliche, das im Dunkeln bleibt. Naivität verbietet sich also. Aber gilt das nicht auch für einen totalitären Pessimismus, der überall nur das Ausweglose, das Immer-Schlimmere wahrnehmen kann. Die Geschichte des Labels „Motor Music“ zeigt, wie vertrackt es sich in Wahrheit verhält – und dass man die vielbeschworene List der Geschichte nicht unterschätzen sollte.

Es gibt Paranoiker und es gibt Schizos: Die Einen glauben nicht an Freiheit, die Anderen nicht an Kontrolle. Für Beide gibt es derzeit viel Diskussionsstoff: Denn auch im Musikgeschäft grassiert das Fusionsfieber. Für Walter Benjamin, den meistzitierten Kulturtheoretiker der 90er-Jahre war die Sache klar: Es gibt kein Dokument der Kultur, das nicht auch eins der Barbarei wäre. Hinter dem vielbestaunten und -besprochenen Schönen verbirgt sich das Schreckliche, das im Dunkeln bleibt. Naivität verbietet sich also. Aber gilt das nicht auch für einen totalitären Pessimismus, der überall nur das Ausweglose, das Immer-Schlimmere wahrnehmen kann. Die Geschichte des Labels „Motor Music“ zeigt, wie vertrackt es sich in Wahrheit verhält – und dass man die vielbeschworene List der Geschichte nicht unterschätzen sollte. class="bild">Chris Cornell / Foto: Motor Music

„Motor“ ist – in seinem Ursprung und in seinem Programm – ein Indie, der im Bauch der Mutter (erst Polygram, jetzt Universal alias Seagram) solange wucherte, bis er die „corporate identity“ ausmachte oder zumindest entscheidend mitbestimmte. Und Tim Renner, der einst als Fanzine-Macher in scheinbar aussichtsloser Spex-Konkurrenz begann, dann Motor aufbaute, ist jetzt „Supervisor“ eines Medien-Multis.

Ist die Geschichte eines Erfolgs notwendig die eines Verrats? Nicht, wenn man sich die Benutzeroberfläche, also den Platten-Output anschaut. Die Kosten fallen vermutlich „backstage“ an. „Motor Music“ zeigt, wie aus Avantgarde Mainstream werden kann beziehungsweise (das gehört zum Pop-Mythos) dass sich nur das gut verkaufen kann, was über genügend „street-credibilty“, also zumindest den Schein der Authentizität verfügt.

Hamburger Schule

Einige Beispiele: Tocotronic, aus der sogenannten „Hamburger Schule“, wollten immer schon nur eins: „Teil einer Jugendbewegung sein“. So ein Bekenntnis ist, medienvermittelt als Popsong-Slogan, immer beides: authentisch und ironisch. Man kann es so oder so hören, je nachdem, zu welchem Publikums-Segment man gehört und über welche Erfahrungen man verfügt. Auf ihrem fünften Album rutscht der Doppel-Sinn schon in den Titel „K.O.O.K.“. Das waren immer schon die beiden Teenie-Optionen: euphorisch-überschwenglich, vitalistisch oder aber pessimistisch, in der „no future“-Maske. Wenn Tocotronic singen: „Das haben sich die Jugendlichen alles selbst aufgebaut“, dann bedienen sie natürlich weit verbreitete Autonomie-Bedürfnisse; dass aber diese Subkultur-Hymne ausgerechnet „Let There Be Rock“ heißt und, scheinbar ungeniert, ausgerechnet das unsägliche „Final Countdown“-Thema der noch unsäglicheren Band „Europe“ zitiert, macht die Subversion gewissermaßen selbstreflexiv. Als würde in der unschuldigsten Lust immer schon der umwegereiche, scheinbar zwangsläufig zu Kitsch und Moral führende Verrat stecken.

Bei Bush, die zumindest in Amerika in den 90ern erfolgreicher waren als die gefeierten Britpop-Stars von Oasis bis Blur, ist die Energie, die bei Tocotronic immer ihren sozialen Ort und kämpferischen Zusammenhang sucht, frei flottierend: ein starkes Gefühl eben, das zumindest so tut, als habe es nur mit anderen starken Gefühlen zu tun – und mit nichts sonst: Eine pathetische Musik, „hart“, „treibend“ und voller Emotion, die ihre Suggestion aus dem reinen Augenblick (der Konzerterfahrung, dem Moment des gemeinsamen Plattenhörens) bezieht.

Marilyn Manson dagegen, auch ein Millionen-Seller, rettet ein Element, das nicht immer und überall und für jeden verträglich ist: das des Schocks. Die Band führt den Rock nicht in die „neue Mitte“, sondern ins Extrem der Kinderträume und –schrecken. „Mechanical Animals“ lebt von der grellen Inszenierung und vom jähen Horror. Vielleicht sind Marilyn Manson die letzten Rocker, gerade weil sie nicht behaupten, dass „Rock“ natürlich sei.

Chris Cornell verkörperte mit der Seattle-Band Soundgarden exemplarisch die Generation X (und lieferte nicht zufällig die passenden Soundtrack-Hits zu den entsprechen Filmen). Mit der Generation ist auch die Band hinfällig geworden. Mit „Euphoria Morning“ versucht Cornell ein Comeback als („zeitloser“) Songwriter.

Ein Comeback, wenn auch ein wüsteres, gelingt auch Matt Johnson mit „Naked Self“. Seine Band nannte er, den Uralt-Kalauer „The Who“ überbietend, „The The“; weiter kann man nicht gehen. „The The“ gehört in den Kontext der frühen 80er, also einer sophisticated gewordenen Punk-Bewegung. Erstaunlicherweise wirkt aber „Naked Self“ überhaupt nicht old-fashioned; auch von Revival oder „re-modeling“ keine Spur. Matt Johnson schreibt seine Lebensgeschichte fort, Zynismen inklusive. Und er schafft es, mit rein akustischen Instrumenten und ältestem Equipment beinahe „elektro“ zu klingen. Betörend!

Libido-Talk

Freudianischer als Matt Johnson ist unter den Songwritern derzeit vermutlich nur Beck. Er besetzt auf „Midnite Vultures“, mehr noch als auf den drei Vorgänger-Alben, eine Position, die Prince in den 80er-Jahren innehatte. Seine Lyrics sind purer Libido-Talk: frei flottierende, sich über Free-Style-Reime beschleunigende, manchmal auch torkelnde Assoziationen aus einem de-zentrierten Universum der Lüste, das nicht mehr genital oder durch Geschlechteridentitäten gebunden ist. Die noch aus dem bürgerlichen 19. Jahrhundert stammende Psychoanalyse nannte das einst polymorph pervers. Rein ästhetisch oder musikologisch gesehen steht Becks Reich im Bann unendlicher Metamorphosen. Was sonst Sache der Samples ist: das Zitieren und Verknüpfen weit abliegender Musikstile, das ist bei Beck schlicht das kreative Zentrum, seine unmittelbare Realität als Musiker und Komponist.

Durch Beck hindurch gehen alle „sounds“ und „visions“ der Pop-Geschichte, ohne dass er dadurch zum Bastler oder Freak würde. Die Masken und Rollen, die Stimmen und Genres sind in sein Innerstes gerückt – und drücken ihn aus. Das, was sein Opa Al Hansen als prominenter Fluxus-Artist im Kunst-Kontext anstrebte, das realisiert Beck, viel selbstverständlicher in seinen Songs und Performances: das unaufhörliche Fließen der Stimmen, eine neue, unangestrengte, nie schwitzende „Authentizität“, die durch die Hölle des Scheins, der Ironie, auch der Brüche und Samples hindurchgegangen ist.

Becks irritierende Authentizität ist letzlich eine, die sich dem „Konsum“ von Tradition verdankt. Das hat er vermutlich mit dem HipHop-Guru Dr. Dre gemeinsam, dessen Sichtbarkeit sekundär ist: Er hat Snoop Doggs Fünffach-Platin-Album „Doggstyle“ genauso produziert wie 2Pacs „California Love“ oder das jetzt schon berüchtigte, weil mit allzu viel Fantasmen des US-Unterwussten allzu unbedenklich spielende Eminem-Debüt „The Slim Shady“. Sein aktuelles Album „2001“ dürfte das derzeit coolste und reichste Statement in Sachen Rap-Flow sein und, ein wenig anders als Benjamin es ursprünglich im Sinn hatte, die These veranschaulichen, dass das Herz jeder Kultur die nackte Barbarei ist.

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