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Die Wirklichkeit wohnt hier nicht mehr

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Trickys Triphop expandiert: Keine „Fusion“, sondern ein Nebeneinander der Welten
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Gibt es Songs ohne Subjekt? Und welche Form muss man wählen, wenn man viel zu erzählen hat? Tricky versucht auf „Juxtapose“ die Quadratur des Kreises. Zu den entsetzlichsten Verirrungen in der Musik der späten 60er und dann vor allem der 70er Jahre gehörte „Fusion“: Da wuchs zusammen, was ganz und gar nicht zusammengehörte. Da wurden immer noch ein wenig scheel beäugte Genres wie Rock oder Funk „veredelt“, indem man ihnen klassische oder zumindest jazzige Weihen gab. Da sollten E-Musik und frei improvisierende Avantgarden mainstreamtauglich gemacht werden, indem man sie popularisierte und „aktualisierte“. Heraus kamen Bastarde wie Classic- oder Jazz-Rock. Mit solchen Geschmackskatastrophen eines menschheitsverbrüdernd-modernistischen Aufbruchs haben die Genre-Überschreitungen der 90er- Jahre kaum mehr etwas gemein. Die südenglische Stadt Bristol war schon seit den späten 80ern ein Labor, in dem aus De(kon)struktion, Montage und technischer Innovation eine Musik der Zukunft destilliert wurde. Das wunderbare Bristol-Paradox, das sich im Ursprung „Massive Attack“ verdankt und das, in ganz unterschiedlicher Weise, auch Tricky oder Portishead verkörpern, ist eine Authentizität, die gerade durch den konsequenten Verzicht auf authentizistische Codes entsteht. Triphop ist Gebrauchsmusik, die nicht verbirgt, dass sie künstlich, erzeugt ist. Sie verdankt sich nicht dem „Schweiß“ einer gequälten und/oder glückshungrigen Seele. Sie ist im Alltag vorhanden wie Architektur, Möbel oder Essen. Sie ist nicht Ausdruck der Existenz, sondern ihr Design. Rein musikalisch ist Tricky weder Sound noch Song, weder reine Funktion noch pure Erzählung. Das Wunderbare an Triphop ist, dass Songs aus Sounds entstehen und selbst Erzählungen Effekte hervorbringen. Was Tricky von Massive Attack oder Portishead unterscheidet, ist die Entschiedenheit, mit der er seine eigenen Konzepte aufbricht und erweitert. Noch nie wurde das so deutlich wie auf „Juxtapose“ (Mercury). Das Bristol-Kid Tricky ist jetzt Bewohner des Big Apple New York. Er vertraut vielleicht nicht dem kriterienlosen „anything goes“ der Postmoderne, wohl aber einem Nebeneiander, einer Nachbarschaft der Genres, die aufleben, wenn sie miteinander in Kontakt kommen. Deshalb erscheint „Juxtapose“ auch explizit als Kollektiv-Arbeit, zusammen mit DJ Muggs (von „Cypress Hill“) und dem Produzenten von Grease. Das Triphop-Universum reißt auf, das Subjekt kehrt in den Sound zurück: mal in smooth-hintersinnigen Bekenntnisliedern Trickys, mal in rüd-erzählenden Raps, die Triphop als Hip-Hop Subgenre erscheinen lassen. Tricky gibt sich überhaupt keine Mühe zu glätten. Jeder Track auf dem Album ist ein Unikat. Und wenn man genauer hinhört, erkennt man, dass auch jedes Einzelstück montiert ist, nicht als unbezweifelbare „Stimme“ eines Subjekts erscheint, sondern eher als Arrangement von Möglichkeiten, deren Charme sich ihrer Seltsamkeit verdankt. Schon der Opener „For Real“, ein Plädoyer gegen die Illusionen der Pop-Industrie, der es eine unbezweifelbare „Perle“ hinzufügt, lebt vom Kontrast düsterer Drum-Schläge, „spaciger“ Gitarren-Kürzel und einer Stimme, die unbezweifelbar Soul und Sex ist, also Sehnsucht und Erfahrung verkörpert. Helmut Hein * Aktuelles Album: Tricky, Juxtapose, Mercury.

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