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Sehnsucht nach dem wahren Leben

Untertitel
„Buena Vista Social Club“: Musik aus Kuba erobert die Pop-Charts
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n den post-modernen Gesellschaften der „western world“, wo alles nur noch Zitat, frivole Erinnerung und virtuoses Spiel zu sein scheint, entsteht als Variante auf dem Markt der Möglichkeiten eine neue Sehnsucht nach Authentizität und Ursprünglichkeit. „Buena Vista Social Club“, schon vor mehr als zwei Jahren auf dem Nischen-Label „World Circuit“ veröffentlicht, belegt seit neuestem Platz eins der Pop-Charts – und die Solo-CD des „Buena Vista“-Sängers Ibrahim Ferrer Platz zwei. „Ich lebe den Traum meiner Jugend im Körper eines alten Mannes“, sagt der 70jährige Ibrahim Ferrer und fügt gleich keck hinzu: „Und ich will noch ein Hit-Album.“ Während ansonsten Pop allzu oft direkt vom Designer-Tischzur MTV-Gemeinde gelangt, gehorcht „Buena Vista“ den Strukturen eines modernen Märchens – und erfüllt offenbar Bedürfnisse, die sich synthetisch nur schwer erzeugen lassen: Eine Gruppe alter kubanischer Männer (der älteste, Compay Segundo, ist über 90!), wird von Ry Cooder im ärmlichen Alltag von Castros malerisch verlotternder Außenseiter-Insel aufgelesen. Sie, deren Leben schon vorbei schien, deren Träume längst verblaßt waren, singen und spielen für ihn im Studio all die Lieder ihrer verschollenen Vergangenheit, treffen damit mitten ins Herz der Gegenwart und stehen am Ende auf der Bühne der Carnegie-Hall. Wer wissen möchte, wie die „Buena Vista“-Begeisterung, jenseits der unbezweifelbaren Qualität der Songs, funktioniert, muß sich nur Wim Wenders’ gleichnamige dokumentarische Recherche anschauen: Sie tut so, als sei sie „cinéma vérité“, dabei spielt sie nicht auf dem fernen Kuba, sondern in den Sehnsuchtsräumen unseres Unbewußten. Jeder Ort ist da schon ein Topos, je-de Geste eine Beschwörung. Spätestens wenn Ry Cooder, sein alter Filmkomponist („Paris, Texas“) und preisgekrönter Weltmusik-Rechercheur, mit Sohn Joaquin auf einem alten Motorrad mit Seitenwagen durch die abblätternden Straßen Havannas rollt, befinden wir uns in einem mythischen Wim-Wenders-Film und auf der Suche nach der verlorenen Zeit. „Authentizität“ ist ein popkulturelles Konstrukt. Und die Musik der alten Männer aus dem verwunschenen Dritt-Welt-Land geht uns deshalb so nahe, weil wir sie immer schon kennen. Die „Sons“, „Boleros“, „Danzóns“ und „Cha-Cha-Chas“ sind selbst Produkte einer synkretistischen Zivilisation, die in bester Multi-Kulti-Manier die unterschiedlichsten Einflüsse aufgesogen hat. Kuba ist afrikanisch, europäisch, amerikanisch. Es ist mindestens so sehr „melting pot“ wie New York. Und seine Musik kam von überall her. Jetzt begegnet und ergreift sie uns offenbar als etwas, das wir vergessen und verloren haben. Diese Musik tröstet aber nicht nur, weil uns in ihr die eigene wegrationalisierte Vergangenheit begegnet, sondern auch, weil sie auf die Zukunft ein mildes Licht wirft. Wer Compay Segundo erlebt, der noch mit 90 als eleganter „womanizer“ und virtuoser Guitarrero daherkommt, der es in der Liebe wie im Spiel faustdick hinter den Ohren zu haben scheint, der vergißt für einen Moment die Sorge, daß er weggeräumt werden könnte, wenn er nicht mehr markttauglich ist. Ist also „Buena Vista“ ein Hype, ein raffiniertes Medien-Produkt, das die Leere füllt, welche „Modernisierung“ und „Globalisierung“ in unseren Hirnen und Herzen hinterlassen haben? Das nicht. Vielmehr ist es das derzeit beste Beispiel dafür, wie kompliziert die musikalischen Verhältnisse geworden sind: Musik, die wirken will, braucht die Straße, die Bars, die dance- und music-halls, also (mit einem Wort) die „roots“. Aber diese Wurzeln sind nie das Unmittelbare, reine Natur, sondern selbst vermittelt, das Produkt vielfältiger Traditionen, „medial“. Und zumindest „Buena Vista Social Club“, das von Ry Cooder produzierte Erfolgs-Album, ist auf mehrfache Weise amerikanisiert: Havanna war ja einst, in der Vor-Castro-Zeit, das Kasino der vergnügungssüchtigen USA. Zumindest Teile der „kubanischen“ Musik waren also schon damals touristisch zugespitzt und bedienten exotistische Bedürfnisse. Auch bei den aktuellen Sessions hat Ry Cooder, zurückhaltend und geschickt, darauf geachtet, daß die Mainstream-Kompatibilität gewahrt bleibt, daß also die „Authentizität“ nie so weit getrieben wird, daß sie nicht mehr ein von allen teilbarer Traum bleiben kann. „Buena Vista Social Club“ versammelt 14 wunderbare Pop-Songs, eine Art „Best-of-Kuba“ der letzten 100 Jahre, deren Fremdheit als Aura wirkt, aber nicht Verständnis und Konsumierbarkeit verstellt. Härter und sperriger ist da schon die CD der „Afro-Cuban All Stars“, mit weitgehend denselben Musikern bei derselben Session eingespielt: die Bläsersätze sind wilder, wüster und dominierender, Melodie und Harmonie treten gegenüber dem puren Rhythmus zurück, die Genres wie „guajiro“ oder „son montuno“ haben nicht schon vor Jahrzehnten den Weg in die internationalen Hitparaden gefunden; man begegnet ihnen hier tatsächlich zum ersten Mal. Und auf den Solo-Alben von Ibrahim Ferrer und Rubén González wird das unbezweifelbare Leben notwendiger Teil der Inszenierung: González (Jahrgang 1919), der einst Arzt hätte werden können und sich dann doch für die unsichere Musiker-Karriere entschied, der in den 40er Jahren, als die kubanische Musik am lebendigsten war, im Orchester des legendären blinden Band-Leaders Arsenio spielte, hatte seit Jahren kein eigenes Klavier mehr, seine Hände waren durch und durch arthritisch. Aber die Musik war in ihm lebendig geblieben, die Gier nach den Tasten trieb ihn schon frühmorgens ins Studio: Beschreibung einer Existenz – und medienwirksame Herausbildung eines Mythos. Auf seinem Album „Introducing“, fast rein instrumental, mit Background-Chören, hört man die Strukturen der kubanischen Musik in ihren Spielarten vielleicht am deutlichsten. Sie ist vital und erotisch. Sie kommt, wie der Blues, aus der Arbeitswelt, aber ihr Zentrum ist die Nacht. Auch Ibrahim Ferrer war irgendwann verloren gegangen, lebte in einem heruntergekommenen Apartment, indem er dem Lazarus seines „Santeria“-Kults huldigte; Ry Cooder las ihn bei einem seiner Spaziergänge durch die Stadt auf. Ibrahim Ferrer ist ein begnadeter „crooner“. Seine Stimme ist wunderbar weich und voller Wehmut. Auf Kuba war dieser Stil irgendwann „old-fashioned“; jetzt betört er ein Millionenpublikum. Dem, was zu Herzen geht, kann man sich am ungeniertesten überlassen, wenn es von weit her kommt. Helmut Hein Plattentips * Buena Vista Social Club * Afro-Cuban All Stars: A Toda Cuba le Gusta * Introducing Rubén González * Buena Vista Social Club presents Ibrahim Ferrer alle CDs auf World Circuit/eastwest

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