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Virtuelle Weltreise

Untertitel
Mouse On Mars und „niun niggung“ · Die Doppel-Helix
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Zwischen U-, E- und A-Musik, zwischen Song und Track: Das Elektronik-Duo „Mouse On Mars“ kennt keine Berührungsängste und zeigt, wie man auf komplizierten Wegen zu einfachen Lösungen gelangt. Das ist weder Konzept- noch Maschinen-Musik, sondern eher so etwas wie reflexiver Pop. Andi Thoma und Jan Werner kennen die Strukturen der E-Musik genauso wie die Suggestion des Lieds und die Funktionsprinzipien von Disco-Patterns. Aber sie erfüllen die Erwartungen nicht, sondern unterbrechen sie. Sie zerlegen alle bekannten Musikformen und montieren die Materialien und Fragmente zu etwas, was John Cage vielleicht „imaginary landscapes“ genannt hätte, was aber hier durch alle Brüche hindurch sehr viel eingängiger daherkommt: Alltag nicht als Idee, sondern als Praxis. Walter Benjamins Vorstellung vom Künstler als Produzenten realisieren sie in der reinsten Form: Sie glauben nicht, dass so etwas wie Wahrheit oder Authentizität vorgegeben ist; wenn überhaupt, erscheinen sie in der avanciertesten Materialbehandlung, in den technischen Innovationen. Die Songs und Tracks auf ihrem Album „niun niggung“ betrachten sie konsequenterweise nicht als Endresultate, sondern als Zwischenlösungen. Der Markt erfordert den Abschluss, irgendwann, die Kunst aber ist für sie „work in progress“, Weiterbasteln, ein dauerndes Neu-Erfinden und -Variieren in einem Rahmen, den sie sich selbst gesetzt haben. Das Außerordentliche an „Mouse On Mars“ ist, dass sie die äußersten Gegensätze, scheinbar zwanglos, vereinbaren. Wenn das Disco sein sollte, dann en passant und eher für den Intellekt als für den Körper. Aus Geräusch-Fundstücken zaubern sie berückende Melodien; oder zumindest Fragmente und Andeutungen von Melodien. Und die eingängigsten Lieder dekonstruieren sie so lange, bis sie sich zu Tracks fügen, in denen das Subjekt und seine Sehnsüchte keine Rolle mehr spielen. Folgen Andi Thoma und Jan Werner einem „masterplan“? Nein, eher noch orientieren sie sich an einer „Landkarte“, die alle Wege offen lässt. Und: auf dem Terrain, das sie bearbeiten, sind sie nicht allein unterwegs. Sie pflegen die Idee der Nachbarschaft, des flüchtigen Verbunds, von Kontext und Kooperation, die aber immer flüssig bleiben und sich nie verfestigen. Das Politische bei „Mouse On Mars“ besteht nicht darin, dass eine bestimmte Position die „eigene“ ist und verteidigt wird, sondern in der Bereitschaft, viele Positionen für ein längeres Gedankenspiel einzunehmen und zu untersuchen. Andi Thoma und Jan Werner sind Nomaden. Kein Wunder, dass Begriffe aus dem Umkreis von Deleuze/Guattari immer wieder auftauchen: Ihre Musik beschreiben sie als „Rhizom“, als Wurzelwerk und Geflecht, in dem man weder Anfang noch Ende finden kann, nur „Stränge“. Das Beeindruckende dieser Art von Avantgarde ist, dass sie sich nicht verkapselt und minoritär wird, wie es in der E-Musik heutzutage so oft passiert. „Mouse On Mars“ verhalten sich nicht arrogant zur Realität. Für sie ist alles, was geschieht, zumindest potentiell Teil ihres eigenen Projekts. Das erklärt vermutlich, dass man, wenn man ihr Album hört, eine virtuelle Weltreise unternimmt: von „ars electronica“ bis zu purstem Pop und rauschhafter Dancehall. Und: „Mouse On Mars“ interessieren sich auf eine futuristische Art für alteuropäische Themen, etwa für die Dialektik von Sein und Schein oder für Entwicklung. Andi Thoma und Jan Werner erproben, innig ironisch, die Rätsel der DNA. Ist die Musik der Zukunft ein genetischer Code, der, so eintönig und repetitiv er erscheinen mag, vieles hervorbringt? Helmut Hein * Mouse On Mars, niun niggung, our choice/rough trade.

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