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Es kreist die Konstruktionm: Die Bühne zu „L’espace dernier“ von Matthias Pintscher. Foto: Opéra Bastille
Es kreist die Konstruktionm: Die Bühne zu „L’espace dernier“ von Matthias Pintscher. Foto: Opéra Bastille
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Im Klang-Raum-Theater verebbt des Dichters Sprache

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Matthias Pintschers neue Oper „L’Espace dernier“ an der Opéra-Bastille uraufgeführt: eine Rimbaud-Imagination
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Wie könnte eine Dichter-Oper in alter Manier aussehen? Ein ambitionierter Komponist wie Matthias Pintscher hat, wie viele andere Komponisten und Komponistinnen derzeit, wenig Interesse an einer veroperten Biographie, überhaupt an tradierten Erzählweisen, die brav eine Handlung durchbuchstabieren, höchstens einmal hier und da kleine Zeitsprünge, nach vorn oder zurück, ins Libretto einfügen. Angestrebt wird, und das gilt hier nun besonders für Pintschers „Rimbaud“-Oper, die Totalität aller musikalischen, theatralischen und optischen Ausdrucksmittel.

Der „Gegenstand“ des Interesses, die Person und das Werk Arthur Rimbauds werden von diesen Ausdruckselementen gleichsam umstellt, betrachtet, gespiegelt, in diese förmlich aufgesogen, wobei die Komplexität und Kompliziertheit des Rimbaud’schen Dichtens in die Struktur der Komposition „übersetzt“ wird. Es ist so ähnlich, als beträte man eine Installation zum Thema Rimbaud, wo im dunklen Raum Klänge, Geräusche, Filmbilder, Textzitate und gespielte Aktionen sich assoziativ zum Stich- und Reizwort „Rimbaud“ zusammenschließen, sich im Zeichen des Dichters synästhetisch vereinigen: zu einem Gesamtkunstwerk, in dem Person und Werk des Künstlers wie einkokoniert erscheinen.

Deshalb nennt Pintscher sein Bühnenwerk auch nicht „Rimbaud“, sondern „L’Espace dernier“ – „Der letzte Raum“. In diesem Raum ist zu Beginn nicht nur der Dichter verstorben, der „Letzte Raum“ steht symbolisch für die Situation der Kunst und die Stellung des einzelnen Künstlers in ihr. Rimbaud gab nach vier Jahren das Dichten auf – warum? Vielleicht spürte er, dass Kunst in seinem damaligen politischen und gesellschaftlichen Umfeld zunehmend funktionslos wurde: ihre denkbaren Wirkungen und Einflussmöglichkeiten zersplitterten an der Realität. Fragmentierung, Zerstörung, Entgrenzung in Rimbauds Texten sind eine Reaktion auf diesen Prozess, sozusagen seine Spiegelung. Stehen wir heute nicht wieder in diesem Prozess: trotz aller Bekundungen und Sonntagsreden zeichnet sich immer schärfer und bedrohlicher ab, dass sich Kunst allgemein, also Musik, Dichtung, oder Malerei einem wachsenden Legitimationszwang ausgesetzt sehen. Der dreiunddreißig Jahre alte Pintscher, nach den Regeln des gegenwärtigen Systems ein Erfolgskomponist, ist zu intelligent, um nicht die dunkle Rückseite für den schöpferischen Künstler-Komponisten zu erkennen: wo findet man den tieferen existenziellen Sinn in seinem Tun? Sind nicht alles nur Rückzugsgefechte, wie bei Rimbaud, der von heute auf morgen für sich die Kunst liquidierte und sich auf die Straße der Verlorenheit, des Vagabundierenden, der existentielle Ortlosigkeit begab?

Das alles sind Gedanken, die einen schon in der Aufführung in der Pariser Bastille-Oper überfallen. Pintschers Affinität zu dem französischen Dichter reicht weit über das rein literarische Interesse hinaus, dringt in die eigene Selbstfindung ein, soll helfen, ästhetische und private Positionierungen zu bestimmen. Letztlich zeigt sich Pintschers Rimbaud-Oper (die keine solche sein will und ist) als eine große Selbstreflexion, voller Fragestellungen und Zweifel: Wozu brauchen wir die Kunst? Was kann sie bewirken? Im „letzten Raum“ bündeln sich auch diese bohrenden Fragen. Der Komponist selbst beschreibt im Pariser Programmbuch die Intentionen, die ihn bei der Herstellung des Szenarios leiteten: „Keine narrative Handlung...die Menschen, die den ,letzten Raum’ betreten, sich in ihm bewegen und orientieren und ihn wieder verlassen, tragen Fundstücke aus Arthur Rimbaud’s Dichtung und Leben zu uns. Sie benennen sich nicht selbst; vielmehr definieren sie sich durch die mitgebrachten Textfragmente im Verhältnis zu dem sich akustisch und visuell ständig verändernden ,letzten Raum’.

Biographische Details tauchen nur als Fetzen einer von weither zugewehten Erinnerung durch“. Das Material, das Pintscher verarbeitet, die „Fundstücke“, stammt ausnahmslos aus der Sphäre Rimbauds: aus seinen Dichtungen, seiner Korrespondenz, eigenen Briefen und den Antworten der Adressaten sowie aus Tagebuchnotizen seiner beiden Schwestern Vitalie und Isabelle, die hier zu einer Figur zusammengelegt erscheinen: als die „Frau“, eine „Sprechpartie“.

Die zweite Sprechpartie, als „Mann“ bezeichnet, könnte, wie der Komponist andeutet, Djami sein, Rimbauds langjähriger afrikanischer Diener, Begleiter und Freund. Die gesungenen Partien, sechs Solisten (vier Frauen, zwei Männer) und ein Vokalensemble aus 16 Frauenstimmen versteht Pintscher als „Absplitterungen“ der beiden Sprechpartien. Dahinter steckt als Konzept die Herstellung eines Raumklangs, das auch für die instrumentale Besetzung gilt: Von den drei Orchestergruppen sitzen zwei im Orchestergraben, eine auf der Szene rechts oben, von einem Ko-Dirigenten geleitet. Hinzu treten noch drei einzeln im Zuschauerraum platzierte Violoncelli, ein Solo-Kontrabass, mehrere Schlagzeuger sowie Live-Elektronik. Das Werk gliedert sich in vier in etwa gleich umfangreiche Teile, die jeweils durch kurze Seqenzen der im Raum verteilten Celli miteinander verbunden sind. Die Textpartikel sind unter anderem den Dichtungen „Les Illuminations“ („Départ“) und „Une saison en enfer“ entnommen. Wenn die Akteure ihre „Texte“ sprechen, definieren sie sich dabei nicht als dramatische Figuren, vielmehr als Wortträger, die Wortzeichen aussenden. Der Zuschauer/-hörer wird evoziert, seine individuellen Imaginationen zu entfalten, sich quasi mit in den Klang-Raum zu begeben, gleichsam „mitzuspielen“. Da werden allerdings an den weniger erfahrenen „Mitspieler“ Anforderungen gestellt, die leicht zu einer Entfernung von dem Werk, statt zu kommunizierender Teilnahme führen können. Zumal Pintschers Musik sich konsequent alles Rauschhaften, Wilden, Klangsüffigen verweigert. Eher spröde, dunkelgetönte Klanggebilde prägen die Eckteile, im ersten wird das Material für alle Abschnitte fast tastend präpariert. Im zweiten Teil „Sur Départ“ dominieren die Vokalsolisten, im dritten erfolgt eine Art „Entfesselung“ in hohem Tempo mit raschen Koloraturen und gesteigerter Expression. In solchen Augenblicken gewinnt Pintschers Rimbaud-Musik ein kaltes Glühen, das eigenartige Faszination ausstrahlt. Dieses kalte Glühen bemerkt man auch bei den Vokalpartien. Die hohen Frauenstimmen wecken dabei Erinnerungen an Luigi Nonos „Prometeo“.

Nono nennt seinen „Prometeo“ eine „Tragödie des Hörens“ und hat dabei nicht unbedingt an eine szenische Realisierung des Werkes gedacht: die „Tragödie“ wird im Klang dargestellt, findet sozusagen im „Kopf“ des Zuhörers statt. In gewisser Weise entspricht diese Dramaturgie auch Pintschers „L’Espace dernier“. Das Werk tendiert stark zu einer Raum-Klang-Installation, in die der Besucher eintritt, um mit den akustischen, optischen und gestischen Ereignissen zu korrespondieren. Das wird besonders am Ende deutlich, wenn die Klänge, Gesten, Töne immer mehr verebben, kaum noch wahrnehmbar sind.

Pintscher beschreibt das im Szenario sehr eindringlich. Mit der Auflösung der Sprache geht der Verlust jeglicher Kommunikationsfähigkeit verloren. Da wölbt sich dann ein großer, weitgespannter Bogen von Rimbaud bis in unsere Gegenwart. Das hat schon etwas Erschreckendes.

Der Szeniker Michael Simon, Regisseur, Raumgestalter und Lichtdesigner in Personalunion erkannte sehr präzise Eigenart und Anspruch des Werkes: Auf der Riesenbühne der Bastille-Oper entstand eine Groß-Installation als exakte Realisierung eines „letzten Raumes“: keine Dekoration, keine Koloristik, nur strenges Schwarz-Weiß, Hell-Dunkel, scharfe Konturen, klare Gliederung des Raumes durch zwei sich gegeneinander drehende dunkelgraue Halbrund-Wände und eine bewegliche Gitterkonstruktion als eine Art Gefängnis. In diesem Raum bewegten sich die Figuren wie Zeichensetzungen: rennend, langsam schreitend, stehend, zu Boden stürzend, in immer neuen Variationen. Die weißen Kostüme der Frauen, ein etwas komisch geschnittenes Hängekleidchen, gemahnte unfreiwillig an Dornach und Steiner-Schule. Das könnte man sicher auch anders, strenger, nicht so putzig gestalten.

Glänzend auch die musikalische Realisierung. Vor allem die Frauenstimmen erklangen mit glühendem Leuchten, von expressiver Intensität durchpulst. Die Namen der Sänger der namenlosen Personen möge man beistehender Legende entnehmen. Mit Kwame Ryan stand ein in Sachen Neue Musik kompetenter und erfahrener Dirigent vor dem Pariser Opernorchester, das bei solcherart „Führung“ über sich hinauswuchs und fast so souverän agierte, als wollte es dem Ensemble Modern Orchestra Konkurrenz machen.

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