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Staatskapelle Weimar und DJ. Foto: Dippel
Staatskapelle Weimar und DJ. Foto: Dippel
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MG-Geballere und DJ-Scratch: Prokofjew-Doppel beim Kunstfest Weimar

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„100 Jahre Kommunismus“ – ein ganz wichtiges „Un-Thema“: Denn wer realisierte welchen Kommunismus „wirklich“ für wie lange…? Christian Holtzhauer und sein Team unternehmen beim Kunstfest Weimar eine Reise durch Paraphrasen, Theorien und Kunstmanifestationen dieses „Spuks“ (Karl Marx).

In der Stadtlandschaft Weimars werden auch die historischen Schichten zwischen dem ehemaligen nationalsozialistischen Gauforum, dem Einkaufszentrum Weimar-Atrium und dem Plattenbauriesen „Langer Johann“ zur visuellen und geistigen Bühne. Nur im Rahmen eines konzeptionell derart verantwortungsbewusst agierenden Festivals ist die objektivierende Aufführung eines Propagandawerks wie Sergej Prokofjews „Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution für Orchester, Militärkapelle und zwei Chöre“ (1936/37) möglich. Ein ehrlicher und dabei nachdenklicher Triumph, den man mit Gabriel Prokofjews „Concerto for Turntables & Orchestra“ einen fast ironischen Schwenk in die Gegenwart folgen ließ.

Die dumpf dröhnenden MG-Salven kommen über lautstark jaulenden Orchesterklängen aus dem Saal links vorn. Aber das ist kein Attentat auf die mit reichlich Prominenz und beträchtlicher Medienentourage gefüllte Weimarhalle. Man spielt mit allen verfügbaren Personalressourcen Thüringens und Berlins die „Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution“ von Sergej Prokofjew. Ein Auftrag des Stalin-Regimes, vor der Uraufführung 1937 in letzter Sekunde abgesagt. Erstmals 1966 doch noch realisiert: Ein charismatischer Monolith im Schaffen des versatilen Meisterkomponisten also. Wohl nur im Rahmen des Kunstfestes Weimar, das sich auf ganz hohem Reflexionsniveau dem Thema „100 Jahre Kommunismus“ stellt, ist eine Aufführung möglich, die den Eindruck eines peinlichen Tendenzwerks verringert. Nach eigenem Bekunden widmete sich Prokofjew mit großer künstlerischer Lust dieser Partitur, die wahrscheinlich die längsten eingängigen Perioden seines Oeuvres enthält. Wenig später fiel er beim Stalin-Regime in Ungnade.

Textstellen aus Stalins Reden an Lenins Totenbahre und beim achten außergewöhnlichen Kongress der Sowjets folgen in Prokofjews auf vier signifikante zum sowjetischen Schulstoff gewordene Texte Lenins. Die Einleitung malt den in Europa umgehenden „Spuk des Kommunismus“ mit einem ganzen Arsenal von für die Massen eingängigen Musikgesten: Marschfragmente, Streicher-Ostinati, Fetzen russischer Volksmusik, urbaner Radau. In den Folgesätzen sind die musikalischen Perioden umfänglicher, massiver, noch lauter und tatsächlich suggestiver. Vor den aufbrandenden Fluten greift GMD Kirill Karabits einmal höchst selbst zum riesigen Megaphon und brüllt Agitatorisches in den Saal. Der Konzertmeister trinkt demonstrativ Hochprozentiges aus der Dose. Doch der Schlussapplaus bleibt trotz beträchtlicher Lautstärke hinter den Phonzahlen der Ausführung zurück. Gegen MG-Salven, Alarmsirenen, eine vom Dirigenten höchst kultiviert gehandhabte neunköpfige Schlagzeugtruppe und dem in diesem Rahmen so lyrisch, intim und innig wirkenden Akkordeon-Quartett kommt sogar ein jubelfreudiger, ausverkaufter Saal nicht an.

Laut und gepflegt – das ist möglich. Bei aller Phon-Stärke verschmelzen das Luftwaffenmusikkorps Erfurt und die Staatskapelle Weimar erstaunlich homogen ineinander. Verführung der Massen vollendet sich hier nicht nur im Marschgeschmetter. Die bombastische Klangkulisse enthält auch samtig-sämige Flächen, die der Ernst Senff Chor in den Trommelfeuern dieses Werks, das ganz ohne Vokalsoli auskommt, mit kerniger Rundung ausbreitet. Aus der geballten kommunistischen Frauenpower hört mit etwas Aufmerksamkeit sogar Mütterchen Russland. Das liegt auch an Prokofjews Komposition und deren aus den langen Flächen leuchtenden Monumentalfarben. Toll auch, dass Chorleiter Steffen Schubert seinen Sängern für die beiden Chöre offenbar die gedankenlos dionysische Kraftentfesselung verboten hat. Das Werk rutscht deshalb nicht in die gefährlich nahe Weihrauchstimmung. Dazu war Prokofjew, dessen rekonstruierte Filmmusik zu „Iwan der Schreckliche“ vor einem Jahr im Konzerthaus Berlin zum satten Überraschungsmoment wurde, auch zu sehr kosmopolitischer Spieler. Der Geist des Kunstfests Weimar setzt einen Rahmen, in dem das weitgehend vorbehaltslose Hören dieses ideologisch belasteten Werks möglich ist. Nur deshalb ist die so geradlinige Zustimmung am Ende frei von Verlegenheit.   

Richtig ausgetrickst ist die Entscheidung von Leiter Christian Holtzhauer für den zweiten Teil, der in der Familie Prokofjew bleibt. Sergejs Enkel Gabriel Prokofjew, derzeit Composer in residence beim südfranzösischen Orchestre Pays de Béarn, katapultiert mit seinem „Concerto for Turntables & Orchestra“ (2007) die Gattung des Solokonzerts in die Techno-Gegenwart. Star-DJ „Mr Switch“ scratcht und mixt sich an zwei Plattenspielern und Mischtabulaturen durch die fünf Sätze. Für das Klassikpublikum hat das auch beträchtlichen visuellen Reiz. Nur beim Versuch der Anwesenden, mit Pfiffen und Jauchzen authentische Clubatmosphäre zu forcieren, hapert es noch etwas. Das liegt aber möglicherweise an der kompositorischen Intention des Prokofjew-Enkels. Die Reihung der DJ-Spieltechniken rückt das Opus in die Ecke einer Konzertetüde. Die hier autonom spielende Staatskapelle Weimar ist ein Spitzenorchester, das alle Gruppenübungen und Beats lupenrein und mit dynamischem Gespür ausspielt. Gerade deshalb rutscht die Begleitfunktion des Klangkörpers schon lange vor „Mr. Switchs“ turboexplosiven Soli ins gefühlt Neutrale. Kirill Karabits leidenschaftliche Energie reicht nicht ganz aus, dass das Gegenüber von DJ und „traditioneller Tonproduktion“ in der Beschleunigungskurve zum rasanten Dialog wird. Trotzdem: Glänzende Show, hippe Vibration und danach beim After-Clubbing im Kalleturm das berechtigte Gefühl des Außerordentlichen.

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