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Diskrete Stücke 2 im Paternoster des Kölner Funkhauses: Manos Tsangaris gestaltete hier gleich mehrere Kabinette. In einem erscheint der Dichter Heinrich Böll (rechts), der diesem Paternoster zu literarischem Ruhm verhalf.
Diskrete Stücke 2 im Paternoster des Kölner Funkhauses: Manos Tsangaris gestaltete hier gleich mehrere Kabinette. In einem erscheint der Dichter Heinrich Böll (rechts), der diesem Paternoster zu literarischem Ruhm verhalf.
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Musik aus dem Wurzelwald

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„Double“: ein „Musik der Zeit“-Wochenende beim WDR
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Fragen der Vermittlung Neuer Musik beschäftigen Komponisten, Musiker oder Kritiker unverändert stark. Man kann über das Thema ein Symposium veranstalten, man kann aber auch den vielleicht effektiveren Weg über das publikumsnähere Live-Erlebnis wählen. Der Möglichkeiten sind mehrere: Die Anhäufung von Uraufführungen , wie in Donaueschingen, das individuelle Komponistenporträt, wie in Weingarten (siehe Seite 50), oder – ganz einfach – die intelligente Programmdramaturgie, die Harry Vogt, Redakteur für Neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk, für die „Musik der Zeit“-Wochenenden seines Senders und die von ihm konzipierten Wittener Tage für Neue Kammermusik entwickelt. Die letzte „Musik der Zeit“-Veranstaltung beschäftigte sich unter dem Titel „Double“ mit komplexen Komponierverfahren, die auf den Prinzipien permanenter Materialfortführungen und Materialerweiterungen basieren, womit zugleich der Begriff der Verdoppelung erfasst wird. Zu allem brachte „Double“ mit speziellen Auftragskompositionen und bereits vorliegenden Werken reiches Anschauungsmaterial, das mit Manos Tsangaris‘ „Diskreten Stücken“ zusätzlich eine gleichsam „doppelte“ Theatralisierung erfuhr.

Im Griechischen bezeichnet das Rhizom einen unterirdischen bewurzelten Spross, das Myzel das unter der Erde wachsende Fadengeflecht der Pilze. Wer diese bildhaften Begriffe auf die Arbeitsweisen gegenwärtiger Komponisten projiziert, erhält damit einen lebendigen, plastischen Einblick in die Struktur der so entstandenen Werke. Wobei sich ähnliche Verfahrensweisen auch schon bei Liszt oder Busoni aufspüren lassen. Pierre Boulez bekannte: „Meine Werke sind im Grunde nichts anderes als verschiedene Gesichter eines einzigen zentralen Werkes, eines zentralen Konzepts. Ich kann mich von einem Material nicht trennen, solange es für mich noch lebendig ist.“ Ein anderes Zitat, von György Kurtág: „Häufig vergesse ich bereits geschriebene Stücke, und es kommt vor, dass ich das Gleiche noch einmal neu erfinde. Man kehrt also von Zeit zu Zeit zum selben Stoff zurück, um die darin verborgenen neuen Möglichkeiten zu sondieren.“ Und noch einmal Boulez: „Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samenkorn: Man pflanzt es in eine bestimmte Erde, und plötzlich vermehrt es sich wie ein Unkraut. Dann muss man jäten.“

Einen weit gefassten und zugleich genauen Blick auf neue Komponierästhetiken, die sich mit Begriffen wie Wucherung, Vernetzung, Umschreibung, De- und Rekomposition klassifizieren lassen, bot jetzt das „Musik der Zeit“-Festival des Westdeutschen Rundfunks in Köln. In Anspielung auf die Schattenerscheinung des romantischen Doppelgängers gab der fürs Programm zuständige Musikredakteur Harry Vogt diesem musikalischen Rhizom-Myzel-Laboratorium den bündigen Titel „Double“. Mit viel Umsicht und kenntnisreichem Wissen wurden für das „Double“-Projekt passende Stücke ausgewählt, aber auch gezielt in Auftrag gegeben, darunter, als gewichtige Uraufführung, Beat Furrers „Konzert für Klavier und Orchester“.

Von Furrer darf man kein tradiertes wechselseitiges Konzertieren erwarten. Sein reichbesetztes Orchester enthält ein weiteres Orchester-Klavier, gleichsam als Verstärker des Orchesterklangs, zugleich eine Art Schatten oder Doppelgänger des Soloklaviers mit der Funktion, das klangliche Spektrum des Solo-Instruments zu intensivieren. Aus dieser Aufgabenstellung entsteht ein beeindruckender Perspektivreichtum. Rauschende und gläserne Klänge, raffinierte Schwebungen, spannungsvolle gegensätzliche lineare Verläufe zwischen Solo-Klavier und Orchester, rasche Gestik, subtil ausgeführte schnelle Bewegungen: Solo-Klavier und orchestraler „Schattenkörper“ führen ein dramatisches, spannungsvolles, fast unheimlich hintergründiges „Doppel“ aus, ein in Klang verwandeltes „Drama“.

So entpuppte sich das sogenannte „Klavierkonzert“ als Klangexperiment, in dem die komponierte Geste die heimliche Hauptrolle spielt. Der Pianist Nicolas Hodges stürzte sich mit wahrer Besessenheit in seinen Part, während das WDR-Sinfonieorchester trotz Peter Rundels Dirigierkompetenz die letzte Perfektion schuldig blieb. Vielleicht können die Musiker sie nachliefern, wenn sie demnächst zum „Musica Viva“-Festival aller ARD-Sinfonieorchester mit Furrers Werk nach München reisen.

Geht es ums komponierte „Wuchern“, darf Wolfgang Rihm nicht fehlen. Seine Orchesterkomposition „Vers une Symphonie fleuve“ (1992/1995) signalisiert dies schon im Titel, im Klavierkonzert „Sphere – Kontrafaktur mit Klavier-Gegenkörper“ (1992/1994) komponierte Rihm musikalisches Material aus seinem Stück „Ins Offene ...“ noch einmal „neu“. Es ist eine Musik voll kräftiger dynamischer und rhythmischer Kontraste, jeder Ton wird von innen mit Energie aufgeladen. Der Pianist Udo Falkner realisierte dies bravourös, und auch das WDR-Sinfonieorchester, wiederum unter Rundel, präsentierte sich hierbei vorteilhafter.

Für Rihm ist Musik in erster Linie eine „Energieweitergabe“. Diese Ener-gie wird aus quasi naturhafter Materie abgeleitet und entsprechend entwickelt. Seine in Köln jetzt uraufgeführte Komposition „Schrift-Um-Schrift“ für zwei Klaviere (mit dem Klavierduo Grau und Schumacher) und zwei Schlagzeugspieler (Franz Bach und Katarzyna Mycka) darf in diesem Sinne als Musterbeispiel gelten.

Den Programm-Titel „Double“ gab Helmut Lachenmann auch der Orchestrierung seines „Grido“-Streichquartetts, das im ersten Konzert vom amerikanischen „Jack Quartett“ perfekt vorgetragen wurde. Die „Grido II“-Musik ist in Gruppen von 6 mal 8 (gleich 48) Streichern zu exekutieren, wobei Lachenmanns Umarbeitung sich bei kleineren Ergänzungen relativ eng an die Quartett-Vorlage hält. Man denkt beim Zuhören an die Orchestrierungen von Beethovens „Großer Fuge“: auch ein Original, das schwer zu übertreffen ist.

Das „Double“-Thema wurde in vielfältigen Variationen und ästhetischen Ansätzen auch in Iris Ter Schiphorsts „Vergeben/Bruchstücke zu Edgar Varèse“ mit prozesshafter Stringenz abgehandelt, in der „Zwiebelhüllen“-Dramaturgie des Ensemblestücks „Echo-Hüllen danach“ von Robert HP Platz und in dessen „Unter Segel Boutaden Hülle 2“ für Stimme und Ensemble, bei dem ein scherzhaft-ironischer Text von Arno Schmidt den Grundton der Komposition angibt.

Einen wichtigen Beitrag zum „Double“-Gedanken leistete auch Manos Tsangaris. Er verteilte im Funkhaus ein halbes Dutzend kleine Stationen: In der Alten Pforte, im Windfang des Ausgangs, im oberen Foyer, im Piano-Atelier konnten jeweils zwei Besucher kurze Musik- und Textbeiträge vernehmen, die auf sein höheres Bewusstsein zielten.

„ Diskrete Stücke“ nennt Tsangaris diese Arbeit, die Innen und Außen als Doppelstrategie verbindet. Am schönsten geriet dabei der „Paternoster“ mit seinen vielen Kabinen, von denen eine immer wieder den Dichter Heinrich Böll zeigte: In dessen Erzählung von „Doktor Murkes Schweigen“ spielte der Paternosteraufzug dieses Funkhauses für ebenjenen Murke eine wichtige psychologische, ja existentielle Rolle. Tsangaris versteht es, mit derlei As-soziationen virtuos und intelligent zu jonglieren, wobei das Zart-Poetische nie zu kurz kommt.

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