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Foto: Géza-Anda-Stiftung, Zürich
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Von der poetischen Auflösung der Musik

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Géza Anda beim WDR Köln: zur neuen Gesamt-Edition bei audite
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Erst spät haben sich die deutschen Rundfunkanstalten dazu durchringen können, Zeugnisse der Funktätigkeit von musizierenden Künstlern aus der Zeit nach 1945 in ihren Häusern der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Nun ist das auch Géza Anda zugute gekommen. Der ungarische Künstler ist nach seinem Tod 1976 diskographisch immer präsent geblieben, weil Kleinlabels seine bei den großen Firmen ausgelaufenen Schallplatten neu aufleben ließen. Auf diese Weise blieb sein diskographisches Vermächtnis umfassend vorhanden und abrufbar. Aber Ergänzungen waren dennoch denkbar durch bislang unveröffentlichte Interpretationen seines Repertoires aus den öffentlich-rechtlichen Schallarchiven.

Hier setzt die nun von audite vorgelegte Géza-Anda-Edition ein. Es handelt sich um vier Alben zu je zwei CDs, ausgestattet mit tiefgreifenden analytischen Einführungstexten Wolfgang Ratherts. Die Aufnahmen kommen vom Westdeutschen Rundfunk und decken Andas Wirken zwischen 1952 und 1969 ab, mithin seinen wohl fruchtbarsten (und öffentlichkeitswirksamsten) künstlerischen Lebensabschnitt. Das Programm der acht CDs besteht, wie nicht anders zu erwarten, aus dem vertrauten Vorrat des Anda-Repertoires. Andas Hauptinteresse galt immer den auch hier vertretenen Komponisten Mozart, Beethoven, Schumann, Chopin, Brahms. Öffentlich gespielt hat er außerdem ausgewählte Kompositionen Bachs, Liszts, Ravels, Tschaikowskys, Griegs und Rachmaninows, von denen in die audite-Auswahl Liszts h-Moll-Sonate einbezogen worden ist.

Die modernere Klavierliteratur aus der Zeit um 1900 und danach hatte Anda immer umgangen. Unvorstellbar, dass er einen der großen Variationenzyklen Max Regers gespielt haben könnte. Ausgenommen von dieser Einschränkung blieben die Werke seines Landsmanns Béla Bartók (der auch mit einem Album diese Edition bereichert). Besonders für dessen drei Klavierkonzerte setzte sich Anda ein; von ihnen existieren zwei berühmt gewordene zyklische Einspielungen mit Ferenc Fricsay (DG/Universal) und Ernest Bour (col legno).

Anda war kein klavierspielender Avantgardist wie Glenn Gould und Friedrich Gulda. Obwohl sich sein Spielstil durch einen enthusiasmierenden Elan auszeichnete, haftete ihm immer der Ruf eines Virtuosen an: mehr sachlich als schwärmerisch-offen, nicht kalt-exzentrisch, eher elegant zu spielen. Dabei vermied sein interpretatorischer Zugriff jeden zirzensisch-effektvollen Selbstbezug. Seine brillante Technik, an der er laut eigenem Eingeständnis immer arbeiten musste, war den kompliziertesten Kompositionen gewachsen. Die Anda vom Publikum entgegengebrachte Gefolgschaft wurde ausgelöst durch seine Leidenschaftlichkeit und unbedingte Hingabe, die er den genannten Komponisten des klassisch-romantischen Zeitalters angedeihen ließ. Seine Recital-Programme konzentrierten sich also auf den allgemein bevorzugten Repertoire-Mainstream. Seine entsprechend konservative Programmwahl machte seine Beliebtheit im Konzertleben einleuchtend.

Das Abhören der vier audite-Alben weckt Erinnerungen an Live-Begegnungen mit Géza Anda in deutschen Konzertsälen, in denen er damals begeistert gefeiert wurde. Nie konnte oder wollte man sich der speziellen Aura, die Anda verströmte, entziehen. Seine exemplarisch persönlichen, dabei keineswegs beliebig freien Werkdarstellungen waren nicht nur immer zustimmungsfähig, sondern sie überzeugten, ja begeisterten auch dann, wenn ihm Details nicht nachtwandlerisch sicher gelangen oder ungewohnte Ordnungen im Verlauf der Musik auffielen. Andas künstlerische Überzeugungskraft kam so ausgeprägt zum Vorschein, dass man nie auf den Gedanken verfallen wäre, in dem Zusammenhang über marginale Auffälligkeiten zu diskutieren.

Dass Géza Anda die Spieltechnik und deren bravouröse Beherrschung nie zum Selbstzweck degradierte, sondern als Mittel zum Zweck, und das entschieden, einsetzte, beweisen seine Aufnahmen. Was aber war für ihn der Zweck? Undenkbar, dass er sich darauf beschränkt haben würde, sein sorgfältig zusammengestelltes Repertoire perfektionistisch-ungerührt abzuliefern. Anda ging es vielmehr – und das war die Grundlage seiner Berufsausübung – um die integrale, stimmige Wirkung des zum Klingen zu bringenden Kunstwerkes. Man hörte bei ihm niemals (und auch in diesen neuen Aufnahmen von ihm nicht), dass schwere Musik schwer zu spielen ist und leichte leichter. Schwere wie leichte ging er mit der gleichen künstlerischen Gewissenhaftigkeit an und erhob diese Einstellung zum Prinzip. Er verfügte geradezu beneidenswert über die Begabung, Musik jeder Ausrichtung poetisch aufzulösen und ihr auf diese Weise eine nach innen wirkende Sensation zu sichern.

Das belegt zum Beispiel seine Darstellung von Chopins Etüden op. 28, deren jede zum Kosmos en miniature wird. Jede ist ein in sich dramatisch oder lyrisch blühendes Genrestück, dessen jeweils ausgewähltes spieltechnisches Problem (Terzengänge, Oktavketten, Arpeggiengirlanden und so weiter) zwar gegenwärtig bleibt, aber doch in eine Art zweite Wirklichkeit absinkt. Bei Anda ging es um die Nachformung musikalischer Charaktere. So kommt man bei Liszts h-Moll-Sonate oder der von Brahms in f-Moll auch nicht auf die Idee, deren technisch intrikates Wesen als furchterregend nachzuempfinden oder darüber, wie er es bewältigte, in Staunen zu verfallen. Denn Anda band den musikalischen Einfall und dessen ingeniöse Ausarbeitung so flexibel wie intentionell unbeirrt in einen Musikstrom individuellster Durchgeformtheit ein.

Mit Mozarts Klavierkonzerten überraschte Anda in den 1960er-Jahren, weil er sie bei aller Liebeszuwendung in eine gewisse Geradlinigkeit zwang, über der er seine Soloparts mit einer immer leicht drängenden Zielstrebigkeit errichtete. Kühle Versachlichung wie einwirkende Seelenwärme garantierten – als Wechselfälle innerhalb des Stroms persönlichen Erlebens – den permanenten Eindruck synthetisierender Unabdingbarkeiten. Dadurch mündete sein Spiel jedoch nie im mechanistischen Status einer bloß nüchternen Auslotung extremer Ausdrucksmodelle.

Eine solche eher negativ besetzte Herausforderung ersparte Anda seinen Zuhörern (und auch sich selbst). Er hielt immer an der einfachen Klarheit und Wahrheit der Klangsprache fest und erhellte durch sie musikalische Zusammenhänge und Ausdrucksumschläge.

Der Ausdrucksbedeutung ist Anda immerfort auf der Spur geblieben. Da leistete seine maßvolle Agogik gute Dienste. Vor allem aber durchdrang er hierarchische Anordnungen von zunächst organisch geführten und dann sich überkreuzenden Strukturlinien mit nie erlahmender Energie. Komponierte Materie hörbar und nachempfindbar werden zu lassen, war ihm jede Anstrengung wert. Eine gedanklich grundierte Musizierethik bestimmte seine Interpretations-Richtungen bis zu seinem Tod.

Diskografie

Edition Géza Anda, Vol. I: Mozart: Klavierkonzerte; Camerata Academica Salzburg, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, G. Anda, C. Silvestri, J. Keilberth. audite 23.407
• Vol. II: Beethoven: Klavierkonzert C-Dur, Sonaten; Brahms, Liszt: Sonaten, Klavierstücke; Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Géza Anda. audite 23.408
• Vol. III: Schumann, Chopin: Klavierwerke. audite 23.409
• Vol. IV: Bartók: Klavierkonzerte 1 und 2, Klavierwerke, Kammermusikwerke; Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Michael Gielen, Ferenc Fricsay; P. Blöcher, Klarinette; T. Varga, Violine; G. Solti, Klavier; K. Peinkofer/L. Porth, Percussion. audite 23.41

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