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Ohne viele Umstände die Wege reflektieren

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Peter Gülke studiert die neue Editon der fünf „großen“ Ouvertüren Beethovens
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Ludwig van Beethoven: Die Fünf Großen Ouvertüren. Coriolan. Die Geschöpfe des Prometheus; Egmont; Fidelio; Leonore Nr. 3, herausgegeben von Helmut Hell, Klaus Kropfinger, Hans-Werner Küthen und Christian Rudolf Riedel, Mainz (Breitkopf & Härtel)

Man könnte darüber ins Grübeln kommen: Sofern die Differenz zur „Leonore II“ nicht jemanden stutzig gemacht oder er gefragt hat, ob zu dem Unisono nicht ein dominantischer Ansprung gehöre, haben die Geiger bei der meistprobierten Stelle der dritten „Leonoren“-Ouvertüre (Takt 514) mit einer falschen Note, c’’ statt d’’, begonnen. Fast 200 Jahre nach der Entstehung haben wir es amtlich, und die Sache ist so plausibel, dass man sich fragt, weshalb es dieses Nachweises bedurfte.

Er gehört zu den spektakulären Ergebnissen der neuen, von dem traditionsreichen Verlag besorgten, drucktechnisch hervorragenden Ausgabe der „Fünf Großen Ouvertüren“. Die Betitelung – sind „Leonore“ I und II oder „Die Weihe des Hauses“ nicht „groß“? – mochte als Klammer notwendig erscheinen, weil zwei editorische Konzepte zusammentreffen: „Geschöpfe des Prometheus“, „Coriolan“ und „Egmont“ sind aus der neuen Beethoven-Gesamtausgabe übernommen (dort 1970 bzw. 2004 erschienen), wohingegen „Fidelio“ und „Leonore III“ von Christian Rudolf Riedel erarbeitet wurden gemäß einem im Verlag seit längerem verfolgten Konzept, welches praktische Verwendbarkeit mit wissenschaftlichem Anspruch verbindet.

Diese beiden enthalten eingehende kritische Berichte, im Gegensatz zu den anderen, deren – seinerzeit separat veröffentlichte – Berichte nicht beigefügt sind. Weil die Bleiwüsten detaillierter Revisionsberichte wenig Einladendes haben, weist Riedel mit Fußnoten, Sternchen und Fettdruck auf kritische Punkte hin, gibt dem Benutzer also Einblick in die Problematik der Herstellung dessen, was publizitätsbedingt offenbar „Urtext“ genannt werden muss und doch, genau genommen, keiner sein kann; nicht zufällig riskiert er in einem begleitenden Prospekt die contradictio in adiecto „Urtext-Vielfalt“ und räumt ein, dass ein „endgültiger Urtext“ nicht erreichbar sei.

Seine ausgezeichnete Arbeit beweist aber auch, weshalb das, sofern man um ein Äußerstes an Annäherung bemüht bleibt, nicht nötig ist – abgesehen davon, dass ein absolut verstanden „endgültiger“ Text die Frage angemessener Realisierung, mindestens angemessener Lektüre nach sich zöge. Wer aber gäbe uns Gewähr, dass wir die Texte genau so lesen, wie sie gelesen sein wollen? Solcher Unsicherheiten wegen erscheint wichtig, dass Editoren nicht einfach Ergebnisse vorlegen, sondern, so weit ohne viel Umstände möglich, die Wege reflektieren, auf denen sie zu ihnen gelangt sind; die meisten ambitionierten Musiker werden es ihnen danken.

Nicht zuletzt geben Quellenbefunde – bei den mit „Fidelio“ verbundenen Ouvertüren trotz jüngerer Entdeckungen und Klärungen kompliziert bis miserabel – über Entstehungsumstände, also auch über die Musik Auskunft; Riedels Berichte, solide Philologie und zugleich mehr, belegen es eindrucksvoll.

Das Nebeneinander zweier editorischer Konzepte in den „Fünf Großen Ouvertüren“ erscheint delikat, weil der traditionsreiche Verlag längst mit eigenen Neuausgaben auf den unerträglichen, der sterilen Unterscheidung praktischer und wissenschaftlicher Edition geschuldeten Umstand reagierte, dass die vom Beethovenhaus Bonn betreute Gesamtausgabe nach fast 50 Jahren ganze zwei Sinfonien vorgelegt hat. Das ließ den Eindruck entstehen, den Verantwortlichen bedeute der Hinblick auf die Praxis wenig und schlägt mittlerweile zurück als Frage, wer die ausstehenden Sinfonie-Ausgaben überhaupt noch brauche, nachdem die Stücke in mehreren gut recherchierten Neu-Editionen vorliegen und substantielle Veränderungen im Textstand kaum zu erwarten sind. Dergestalt erscheint die Zusammenarbeit wie eine späte Zuflucht beim Praxisbezug.

Angesichts der hier dokumentierten hohen editorischen Ansprüche erscheint bedauerlich, dass es offenbar nicht möglich war, eine naheliegende Konsequenz zu ziehen: die Berichte der „Coriolan“-, „Egmont“- und „Prometheus“-Ouvertüren im Sinne der verlagsüblichen Handhabung aufzuarbeiten und beizufügen.

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