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15. Tag: Stoppt die sinnlose Jagd!

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Heute Abend ist Ende. Schluß. Schade. (Schade?) Vergeblich habe ich tagelang auf einen Lagerkoller gewartet. Den soll es vor zwei Jahren hier in Darmstadt sehr wohl gegeben haben - was man vor allem dem damaligen Dozenten Helmut Lachenmann angemerkt habe. Ein Lagerkoller kann sich sehr positiv auf angestrengte Podiumsdiskussionen und Lectures auswirken. Man will eigentlich endlich wieder nach Hause, keine Neue Musik mehr hören, hat seit Tagen immer nur ungesund gegessen: das setzt doch tatsächlich kreative Kräfte frei. Man könnte die Darmstädter Dozenten in zwei Jahren ja vorher schon einmal zwei Wochen in Darmstadt einsperren. Huch, eine Tautologie, ok, sagen wir: nach Darmstadt einladen (es müßte allerdings schon ein Container sein. Eng. Und nicht besonders komfortabel eingerichtet). Trotz anfänglicher kollegialer Freundlichkeit würden sich nach ein paar Tagen mindestens zwei Lager bilden, immer häufiger Diskussionen in Beleidigungen ausarten... Und nach Ablauf dieser Zeit würden dann die Ferienkurse beginnen - und wir Teilnehmer kämen, was den Entertainment-Faktor anbelangt, von Anfang an auf unsere Kosten. Eine Lagerkoller-Szene gab es dieses Jahr nur ein einziges Mal. Leider war ich nicht dabei, muß mich also auf Fremdinformationen verlassen. Bei dem Roundtable "Problems of Notation" soll Baltakas die Befürchtung geäußert haben, ein Ferneyhough-Schüler, der ebenfalls sehr "komplex" komponiere (was sich - für Besitzer von Druckern mit teuren Nachfüllpatronen ungünstig - dem Laien anhand der Kontemplation schwarzer Partituren erschließt), komponiere unter Umständen weniger wahrhaftig, weil er den Bildungshintergrund Ferneyhoughs selbst noch nicht haben könne, aber bereits in dessen Stil Musik zu Papier bringe. Da soll (und ich bedauere, nicht da gewesen zu sein) Ferneyhough fuchsig geworden sein. Apropos Notation. Apropos Fuchs. Über Notationsangelegenheiten zu sprechen ist wichtig, keine Frage. Es als Ausflucht zu benutzen, um wirklich wichtige (ästhetische, formale, kompositionsgeschichtliche) Fragen zu umgehen, ist dagegen falsch. Das ist aber dieses Jahr in Darmstadt immer wieder passiert, gerade dann, wenn sich keiner der Dozenten traute, im "Young Composers Forum" beispielsweise nach dem Sinn komponierter Allgemeinplätze zu fragen. Junge Komponisten scheinen darauf seelenruhig zu vertrauen, ein Crescendo aus dem Nichts ins Nichts (besonders beliebt, wenn es die Sologeige spielt), einfach so verwenden zu können. Als Material. Als Topos (wobei dieses Wort - denn das würde ja einen kritischen Abstand zu musikalischen Allgemeinplätzen bedeuten - in dem Wortschatz sehr vieler junger Komponisten überhaupt nicht vorkommt), mit dem man wohl alles richtig zu machen glaubt. Aber gibt es in der Kunst etwas "richtig" zu machen? (Rhetorische Frage. Klar.) Es sollte in der Kunst kein "richtig", kein Vertrauen auf irgendetwas (aber auch nicht den ständigen Gestus der angeblichen Verunsicherung, der "komponierten Suche", die selbst schon wieder große Sicherheit zu versprechen scheint) geben, sondern wirklich individuelle, mutige, kluge, provokante, frische, eigene, spannende und aktuelle Äußerungen. Zurück zum Fuchs. Wolfgang Rihms gestern in der vollen Sporthalle am Böllenfalltor erklungene "Jagden und Formen" spalteten das Publikum. Allerdings nicht hörbar direkt nach dem mehr als eine Stunde galoppierenden Stück (ich habe nur zwei Buhrufe vernommen), sondern anschließend im Gespräch. Von "genial", "instrumentatorisch ganz nett" (ich) bis "absolut ekelig" war alles dabei. Ich hätte mich vielleicht nicht in die erste Reihe setzen sollen. Ich bin immer noch ganz benommen von der immensen Lautstärke. Das ist auch der Grund, warum ich nur ungerne in manche Berliner Kinos gehe. Dort wird der Sound für meine empfindlichen Ohren einfach zu laut aufgedreht. Apropos Berlin. Morgen früh werde ich abreisen und am Abend live aus Berlin-Mitte meine Eindrücke vom Abschlußkonzert absenden. Ich bedanke mich aber schon jetzt bei allen Lesern dieses Blogs. Ich bin mir sicher, daß es bei den nächsten Darmstädter Ferienkursen vielleicht schon 20 Blogs (und dann endlich auch in verschiedenen Sprachen) geben wird. Und da sage noch einer, ich sei destruktiv...

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