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Anders Eliasson (1947-2013) – Zeitlos moderner Mystiker in Tönen

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Vor wenigen Tagen verstarb der schwedische Komponist Anders Eliasson in Stockholm. Unser Autor Christoph Schlüren kannte den Komponisten aus persönlichen Gesprächen und hat für die nmz einen geradezu intimen Nachruf verfasst. „Diese Musik fliegt, ohne je zu landen“, beschreibt er hier die Musik von Eliasson. Das Komponieren sei für Eliasson das Hineinhören in die der Musik innewohnenden Triebkräfte, ganz im Sinne des von Sibelius ausgesprochenen Satzes: „Ich bin der Sklave meiner Themen.“ Der Komponist findet einen geeigneten Anfang und nun „bin nicht ich es, der zu einem Ende kommt. Es ist die Musik selbst und ich versuche, meine Finger heraus zu halten.“

„Letzten Endes sind wir alle eine Identität. Die Menschheit. Ich, dieser Mensch. Dass ich zu Dir spreche, denke ich. Erst wenn ich mit mir dessen eins bin, dass ich immerzu mit mir gesprochen habe, kann ich in mir vielleicht die Trennung transzendieren. Das kann, und daran wollen wir anscheinend nicht glauben, Unvorstellbares in uns allen auslösen. Wir verstehen die Individualität so unglaublich eingeschränkt und falsch. Wir wollen einfach nicht verstehen, dass wir da so gar nicht individuell sind, wo wir uns so gerne für einzigartig halten – in unseren Empfindungen, Gefühlen und Gedanken. Also leben wir jeder in dem Gefühl, dass mein persönliches Drama individuell ist, und sind damit in unserem Bewusstsein getrennt von uns selbst. Was zur Folge hat, dass wir das, was, wie die alten Meister sagen, in das Buch unseres Lebens geschrieben ist, nicht leben können. Wir wollen dann etwas anderes sein, als was wir sind, und halten das für Individualität. Doch heute fühle ich, dass die Individualität erst aus dem Annehmen der Identität von uns allen, und der daraus erwachsenden Liebe, geboren werden kann. Die Seele muss wachsen dürfen, und darüber habe ich selbst zu wachen. Und mich jeden Tag fragen: Will ich das? Oder will ich dem Sog der auf mich einstürzenden Erscheinungen erliegen und darin verloren gehen. In der ganzen Pracht der Mannigfaltigkeit die Einheit zu finden, ist zugleich eine stetige Aufforderung, mich zu erinnern. Das ist auch der Ursprung der großen philosophischen Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Es ist die Grundfrage, wofür ich überhaupt in diese Welt gekommen bin, was der Sinn und Zweck dieses Daseins ist, die ich auch immer versucht habe, Musik werden zu lassen, natürlich am offensichtlichsten in Quo vadis?, aber tatsächlich überall. Ob es gelungen ist, ist eine andere Frage. Und ob man das verstehen kann – so, wie wir meinen, zu verstehen –, erscheint äußerst zweifelhaft. In aller Demut kann man sehen: das versteht nur der Verstehende – der, der es lebt. Der sich selbst zum Gott gemacht hat, und das ist das Problem unserer westlichen Welt heute, hat sich den Weg zu sich abgeschnitten. Was heißt es denn, dass nichts einfach so ist, wie es scheint? Wir sitzen viel zu hoch auf dem Ross unserer gierigen Träume, um uns noch trauen zu können, herunter zu steigen. Also warten wir darauf, dass der Tod es für uns erledigt, und haben dabei eine solche panische Angst vor der Rechnung, die er uns präsentiert, dass wir ihn – das einzige, was uns mit Sicherheit erwartet – aus unserem Leben ausgeblendet haben. Nichts ist für uns so Tabu wie der Tod. Wie aufschlussreich, entlarvt er doch die vermeintliche Individualität endgültig als Illusion. Jeder von uns weiß das in seinem tiefsten Inneren. Was macht uns so schwach, nicht danach zu handeln?“

Diese Aufzeichnung entstand anhand unseres letzten Gesprächs zwei Wochen vor seinem Tod. Am Pfingstmontag ist in Stockholm nach schwerer Krankheit Anders Eliasson gestorben, und in den meisten Nachrufen ist die Rede davon, dass er „Schwedens größter Komponist“ gewesen sei. Bemerkenswert ist daran nicht nur, dass dies erst dann von einem Tag auf den anderen so einmütig ausgesprochen wird, wenn der Betreffende nicht mehr unter uns ist – denn bis dahin gelten die Gesetzmäßigkeiten demokratischer Rücksichtnahme. Vor allem handelt es sich hier um eine nette Untertreibung, und wir werden sehen, wie Eliassons überragender Rang nach und nach für die weltweite Musik-Öffentlichkeit sichtbar werden wird. Es geht nicht darum, ihn mit anderen zu vergleichen, doch einen substanzielleren, hochkarätigeren Tonschöpfer habe ich in unserer Zeit nicht entdecken können.

Was nun ist dieses Besondere an ihm, was ist sein „Geheimnis“, was sind seine Errungenschaften? Zunächst einmal müssen wir verstehen, dass sich seine Musik nicht einfach mit gängigen Etiketten versehen lässt. Er war weder Minimalist noch Komplexitätsbesessener, weder herkömmlich Tonaler noch Atonaler, weder Traditionalist noch Experimenteller. Schon die Frage, woher er am stärksten beeinflusst worden wäre in der Phase der Herausbildung seines Stils, lässt sich nicht auch nur einigermaßen befriedigend beantworten. Seine Herkunft aus der täglichen Jazzpraxis in jugendlichem Alter und intensivster Auseinandersetzung mit der Musik Johann Sebastian Bachs, die eingehende Kenntnis der gesamten Geschichte der abendländischen Musik, das Studium der neuen Musik der sechziger Jahre in all ihren Facetten, das rege Interesse an indigenen Traditionen aus aller Welt, all das hat sich zweifellos in seinem System in unterschiedlichem Maße ausgewirkt. Doch als er um 1970 – zunächst verzweifelt darüber, dass ihm die modernen Techniken und Methoden nichts von dem gaben, wonach er sich im Innersten sehnte – zu jener bis dahin unbekannten Tonsprache fand, die er von nun an in ihrer unendlichen Ausdehnung zu erkunden begann, gab es keinerlei Vorbild, an dem er sich hätte orientieren können.

Ich muss gestehen, dass ich nicht die Gleichgültigkeit besitze, die von ihm entdeckte und explorierte Form der freien, in kontinuierlichem Flug befindlichen Tonalität einzusortieren in die Vielfalt der im 20. Jahrhundert erfundenen bzw. entdeckten Tonsysteme. Denn was er entdeckt hat, war eben nicht eine weitere, durch Spekulation, Ableitung oder individualisierte Auslegung des Fortschrittsgedankens gewonnene spezielle Methode wie etwa die Zwölftontechnik, serielle oder minimalistische Techniken, Übertragungen mathematischer Prinzipien oder interdisziplinäre übernommene Ideen. Zunächst, so könnte man sagen, hat er einfach nur eine Öffnung gefunden, einen bislang nicht entdeckten Raum betreten. Dieser Raum mit seinen ganz eigenen energetischen Gesetzen, der sich schnell als unbegrenzt herausstellen sollte, bildete dann die neue Wirklichkeit, der er sich von nun an hingab. Seine skalisch generierte Harmonik ist ihrem Wesen nach „triangulatorisch“, was zur Folge hat, dass sie sich stets nicht auf ein einzelnes tonales Zentrum oder die Opposition von zweien bezieht, sondern sich im fortwährend fliegenden Wechsel von drei tonalen Attraktionsfeldern bewegt. Dies zieht eine äußerste Mobilität der musikalischen Energie mit sich. Die Bewegungskraft, das der musikalischen Entwicklung zugrundeliegende Momentum, kommt niemals zum Stillstand, von Anfang an sind die einander widerstrebenden Vektoren am Werk, und selbst die Schlüsse bleiben in der Schwebe. Diese Musik fliegt, ohne je zu landen. Sie bietet den Fängen der Sentimentalität, also des Bedürfnisses, in bestimmten Zuständen zu verweilen, keine Zugriffsmöglichkeit. Herkömmliche Konsonanzen kommen kaum vor, und doch sind wir nicht Opfer ungehinderter Fliehkräfte der Dissonanz, denn hier ist alles mit allem verbunden und unterliegt unwiderstehlicher Ausrichtung. Als Grundcharakter schließt dies höchst unterschiedliche Qualitäten ein – es kann sich also ebenso um eine in der tragenden Ausrichtung lyrisch-verhaltene Musik handeln wie um rabiate Attacken oder das aus der Gegenüberstellung extrem opponierender Welten sich entfaltende großsymphonische Drama. Hauptwerke von ihm zu benennen, ist fast aussichtslos, unterliegt zumindest einem hohen Grad von persönlichen Neigungen überlassener Willkür. Ich möchte es trotzdem versuchen, ohne dadurch auch nur eine Komposition auszuschließen, habe ich doch in seinem Schaffen seit den siebziger Jahren nicht auch nur ein objektiv schwächeres Werk finden können. Die drei Symphonien für großes Orchester (Nr. 1, 3 und 4; die Zweite hat er nie vollendet) sind hier unbedingt zu erwähnen: die Erste hochkomplex in der virtuosen orchestralen Faktur; die Dritte ein relativ unbedarft mitzuvollziehendes dramatisches Werk mit scharf gezeichneten Kontrasten zwischen den fünf Sätzen, geschrieben für Orchester mit dominierendem obligaten Altsaxophon-Solo, gleichwohl kein Solokonzert; die Vierte höchst konzentriert, klar strukturiert, in der Ornamentik auffallend reduziert, mit präzise hervortretendem thematischen Kern. Die Sinfonia da camera für Bläserquintett und Streichorchester beginnt in erratisch wild kontrapunktierendem Dissonanzstrudel und wird zu einer naturhaften Beschwörung der kleinen Terz – eine Musik von unerhörtem Zauber, sobald man zu ihren dunklen Anteilen Bezug gefunden hat. Die Sinfonia per archi ein einziger, dreiteilig aufgebauter Bogen von 40 Minuten, geschrieben in einer Konzentration und stringenten Dichte, wie ich es von keinem anderen Musikstücken solcher Ausdehnung unter minimaler Verwendung instrumentaler Effekte kenne. Seine drei einsätzigen Werke für Streichorchester – Desert Point, Ostácoli und Ein schneller Blick, ein kurzes Aufscheinen – bilden äußerlich eine klare Entwicklungslinie von exzessiv formuliertem, harsch austreibendem Konflikt zu besonnenerem Ausdrucksspektrum. Bereits heute sind sie zu Klassikern der Besetzung geworden, die höchstens wegen horrender Schwierigkeiten gemieden werden – denn eine mangelhafte Ausführung enttarnt sich bei Eliasson von selbst, so glasklar und musikalisch bezwingend ist die Faktur ausgeführt. Es gibt auch ein herrliches Streichquartett, ein Klarinettenquintett, ein Cembaloquintett, ein Horntrio, sein finales, unter den Qualen seiner todbringenden Erkrankung vollendetes Streichtrio, und viel weitere Musik für verschiedene Ensembleformationen, Kammermusikgruppen und Solisten (Andreas Skouras hat seine gesammelten Klaviersolowerke exzellent eingespielt, die bei NEOS erscheinen werden). Kimmo für Trompete und sechs Perkussionisten etwa lässt das Schlagzeugensemble klingen wie ein farbenreiches Orchester. Eliasson hat uns auch eine Reihe von höchst attraktiven Solokonzerten hinterlassen, in denen niemals die Virtuosität die Hauptrolle spielt, obwohl sie sehr dankbar für Instrument unter Ausnutzung seiner idiomatischen Gaben geschrieben sind: zwei Violinkonzerte (eines mit Streicherbegleitung), mit Streichorchester außerdem das Fagott-, das Horn- und das Altsaxophonkonzert, des weiteren ein Klarinettenkonzert, ein Bassklarinettenkonzert und ein Posaunenkonzert sowie zwei Doppelkonzerte (für Violine und Klavier bzw. für Violine, Viola und Streicher).

Chor und Sologesang hat Eliasson, primär Instrumentalkomponist, insgesamt weniger ausgiebig bedacht, jedoch einige monumentale Kompositionen unter Mitwirkung von Sängern geschaffen wie das visionäre Linné-Tonpoem Canto del vagabondo, die späte Monolog-Oper Karolinas sömn und vor allem das siebensätzige symphonische Oratorium Dante Anarca und die einsätzige oratorische Symphonie Quo vadis? Dass er von Dante Anarca, diesem Gipfelwerk mystischer Textvertonung, keine zweite Aufführung mehr erleben durfte nach der Uraufführung in Stockholm unter Manfred Honeck, hat ihn ganz besonders geschmerzt. Ich möchte bemerken, dass es an zeitgenössischer Musik kaum etwas gibt, was mich so tief berührt hätte, und vielleicht dürfen wir ja noch den postumen Siegeszug dieser großen Evokation Dantes und seiner Meister erleben.

Als Mensch war Anders Eliasson von unbeschränkter Herzlichkeit, und zugleich alles andere als bequem. Er war nicht nur in musikalischen Fragen das Gegenteil eines Diplomaten, und man konnte absolut sicher sein, niemals unangebracht geschmeichelt zu werden. Er konnte einen Musiker nach einer Aufführung in den Himmel loben, und nach der nächsten Darbietung ebenso radikal ablehnen. Wenige vermochten es, seine kontinuierliche Anerkennung zu gewinnen, darunter die loyalen Streiter auf höchstem Level für sein Schaffen wie Juha Kangas und sein Ostrobothnian Chamber Orchestra oder John-Edward Kelly und sein New Yorker Arcos Orchestra, die Dirigenten Sakari Oramo und Johannes Gustavsson, die Pianisten Andreas Skouras, Roland Pöntinen und Rudi Spring, die Geiger Rebekka Hartmann und Ulf Wallin.

Um die Jahrtausendwende brach Anders abrupt mit dem „amerikanisierten“ Schweden und zog nach München, doch holten ihn dort solche Missgeschicke ein, dass er widerwillig zurückkehrte. In all jenen Jahren hatte er das Gefühl, vom Teufel verfolgt zu sein. Seite an Seite mit seiner russischen Frau Marina fand er schließlich im letzten Jahrzehnt zu einem zeitweise harmonischeren Leben, und sie war es – unterstützt von seinem Biographen Tony Lundman, seinem österreichischen Freund und Wegbereiter Peter Kislinger, seiner Tochter Maria, seiner Exfrau Eva und einigen anderen engen Freunden –, die ihm unerschütterliche Stütze in der letzten, vom Gallengangkrebs gezeichneten Phase sein konnte. Die Lücke, die Anders Eliasson hinterlässt, kann nicht geschlossen werden. Nun spricht sein Werk, und aus ihm die Stimme eines zeitlos modernen Mystikers in Tönen. Wir wünschen unserem Freund, den wir stets vermissen werden, eine gute Reise. Wenn er mich in den letzten Jahren anrief, so begrüßte er mich stets, meinen tiefsten Neigungen und Interessen entsprechend, mit „Hallo Mullah“. Eine scherzhafte Reverenz an die Tatsache, dass wir auch unsere Liebe zu Ibn Arabi und Rumi haben teilen dürfen. Dieser Tradition entsprechend, rufe ich ihm nach: „Farewell, Mevlâna of Contemporary Composers!“

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