Hauptbild
„Theater der Stimmen“: Carmina Slovenica in „When the mountain changed it’s clothing“. Foto: Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale, 2012
„Theater der Stimmen“: Carmina Slovenica in „When the mountain changed it’s clothing“. Foto: Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale, 2012
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Beim Berge des Propheten! Vocal Theatre Carmina Slovenica glänzt im neuen Ruhrtriennale-Musiktheater von Heiner Goebbels

Autor
Publikationsdatum
Body

„When the mountain changed it’s clothing.” Wenn der Berg sein Kleid wechselt. Was dann ist? Dann geht auf der Ruhrtriennale-Bühne im doppelten Wortsinn die Kindheit zu Ende. Vor allem aber scheint mit dieser vierten Musiktheaterproduktion der Häutungsprozess des Festivals abgeschlossen. Die Handschrift wird erkennbar, die Heiner Goebbels diesem „internationalen Fest der Künste“ einschreibt.

Man konnte es spüren. Dem regieführenden Triennale-Intendanten Heiner Goebbels war sichtlich der Ballast von der Schulter genommen. So frei, so leicht, so spielerisch. Auf einmal war alles meilenweit weg: die Stückfindungsprobleme, die Klassizitätstendenzen befreundeter Regisseure (siehe Pontifasio/Prometheus, siehe Wilson/Cage), aber auch (siehe Cage/Europeras) der eigene Kampf mit dem fortwirkenden Überbau einer eigentlich abgewickelten europäischen Operngeschichte. Weg das alles. Damit aber war er umgekehrt da, dieser Riesenfreiraum. Wenn auch, zum Glück, nicht mehr in Gestalt der ganz ganz großen Bühne, des Neunzig-Meter-Schlundes der Jahrhunderhalle. Bespielt wurde eine abgezweigte Mini-Halle von recht zivilen Ausmaßen, die eben das ermöglicht hat, was man zu einem gelungenen Theaterabend braucht: Nähe, Intimität, Stille. 

Neue Kleider

Zu erleben war eine leichte, mit viel Luft und Lust operierende Produktion über ein Thema von einiger Größe und Schwere. Wie ist das, wenn wir plötzlich bemerken, dass wir erwachsen werden müssen? Eben: “When the mountain changed it’s clothing.” Wir können das schaffen, stand zwischen den Zeilen. Nicht anders wie es auch Heiner Goebbels geschafft hat. Am Ende hat es funktioniert, dieses ganz aus der Improvisation entwickelte Stück Musiktheater. Und zwar trotz der Inkonsequenz ellenlanger, aus dem Theaterhimmel abgespulter Text-Rezitationen. Gegen diesen Schwachpunkt überwogen letztlich die Tugenden, die Erfolgsgaranten dieses freihändig absolvierten Theaterabends. Geschafft wurde es mit dem Goebbels eigenen Mut zur Konfrontation, mit präzise choreografiertem Bewegungstheater, vor allem aber mit einem musizierenden Partner, der in Europa seinesgleichen sucht: Vocal Theatre Carmina Slovenica heißt die faszinierende Chorformation aus dem slowenischen Maribor, die diesem Ruhrtriennale-Theaterberg seine neuen Kleider angepasst hat.

Verantwortlich für den perfekten Sitz: Neununddreißig Mädchen und junge Frauen, jede gesegnet mit mehr als nur mit einem Talent. Und wie sie damit wuchern. Selbstredend, dass es für diese Truppe kein ölgötzengleiches Herumstehen mehr gibt. Gesungen wird gegebenenfalls auch im Liegen. Und zwar sehr schön mit diesem für den Balkan so charakteristischen kehligen Ansatz. Überhaupt: Professionelle Präzision wohin man schaut. Vom chorischen Singen sowieso über ein glasklares chorisches Sprechen bis zum freien Agieren auf der Bühne – einzeln, in Gruppen, als Kollektiv, mit und ohne Requisiten. Verständlicherweise redet Leiterin Karmina Silec deshalb auch nicht mehr von “Chor“ und „Chorgesang“, wenn sie ihr Ensemble meint, sondern von „Vokaltheater oder Theater der Stimmen“. Worin natürlich gehörige Wahlverwandtschaft steckt zum Theaterverständnis des Heiner Goebbels.

Ohne Worte

Letzteres arbeitet mit der Konfrontation. Was Vocal Theatre Carmina Slovenica insofern erlebt hat, als jede der Darstellerinnen sich unversehens mit Literatur konfrontiert sah, die haargenau das zum Thema macht, was sie selbst bewegt. Eben den Abschied von der Kindheit, verbunden mit all dem Elementaren, was in einem Mädchen da so vorgeht. Haus verlassen, Liebe, Geld, Beruf, Endlichkeit. Genial gefunden hat Goebbels dazu Passagen bei Adelbert Stifter, Gertrude Stein, Jean-Jaques Rousseau. Vor allem die aus dem „Emile“ trafen den Nagel auf den Kopf. Das Kinderfräulein: „Wirst du immer leben?“ Die Kleine: „Ja.“ Manche im Publikum mussten an dieser Stelle lachen. Dabei ist doch nichts wahrer als solch juveniles Gefühl der Unsterblichkeit. Ganz still wurde es dann aber doch noch als sich alle neununddreißig slowenische Carminas hart an der Rampe niedersetzten, um mit uns für Minuten stumme Blicke zu tauschen. In der Sprechblase stand: Das wart Ihr einmal. Das werden wir bald sein.

Nächste Aufführungen: 27., 28., 29. 9. (Jahrhunderthalle Bochum)

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!