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Lulu: Matthias Klink (Alwa / Ein Tierbändiger / Ein Athlet), Marlis Petersen (Lulu), Bo Skovhus (Dr. Schön / Jack the Ripper), Daniela Sindram (Gräfin Geschwitz). Foto: Wilfried Hösl
Lulu: Matthias Klink (Alwa / Ein Tierbändiger / Ein Athlet), Marlis Petersen (Lulu), Bo Skovhus (Dr. Schön / Jack the Ripper), Daniela Sindram (Gräfin Geschwitz). Foto: Wilfried Hösl
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Die Welt im Labyrinth – Marlis Petersen und Kirill Petrenko setzten in München mit Alban Bergs Lulu auf musikalische Überwältigung

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In München ist die neue „Lulu“ ein musikalisches Ereignis! Im Ganzen und auf die Interpretin der Titelrolle bezogen. Dass sich Marlis Petersen mit dieser bei Wedekind (1864–1918) und dann bei Berg (1885–1935) allemal skandalumwitterten Femme fatale eine blutige Nase holte, war als kleiner Premierenunfall (nur) ganz wortwörtlich zu verstehen. Im Eifer des Gefechts verfehlte sie nämlich im zweiten Akt einen der Durchgänge im vollverglasten Labyrinth, mit dem der russische Regisseur und Ausstatter Dmitri Tscherniakov die Bühne vollgestellt hatte, und knallte gegen eine Glaswand. Mit einem geistesgegenwärtig gereichten Taschentuch und einer Live-Improvisation vom Feinsten (inklusive der kleinen Textkorrektur zu einem „mir geht es nicht gut“) überspielte sie das so, als würden die Blutspritzer auf dem weißen Kleid dazu gehören.

Im übertragenen Sinne aber ist das genaue Gegenteil von blutiger Nase das Lulu-Fazit des langen vierstündigen Abends. Die Lulu der Marlis Petersen war grandios! Imponierend souverän im Wechsel zwischen Sprechgesang und ariosem Leuchten. Die aufflatternden Koloraturen glichen mehr tollkühnen Flugversuchen als einer Kunstanstrengung. Dabei sieht sie mit ihrer atemberaubenden körperlichen Präsenz auch noch blendend aus. Es ist ihre neunte Lulu (eine davon in Wien). In München demonstrierte sie mit jedem Ton, warum sie der aktuelle Musiktheaterglücksfall für diese Partie ist. Dass die gesprochenen Passagen die Hochspannung für Momente unterbrachen, vergisst man schnell. Auch um sie herum herrscht an der Bayerischen Staatsoper der vokale Ausnahmezustand. Bo Skovhus als Dr. Schön und Jack the Ripper ist so abgründig, markant und voluminös wie lange nicht. Rainer Trost ein Maler mit ewigem Jungmänner-Charme. Matthias Klink ein hingebungsvoller Alwa. Pavlo Huonka ein vital übergriffiger Schigolch. Martin Winkler ein eloquenter Athleten-Fiesling und Daniela Sindram eine prägnante Geschwitz von herber Eleganz. Und so geht das weiter bis in die kleinste Nebenrolle.

Im Graben machte Kirill Petrenko aus der mit dem Friedrich-Cerha-Schluss vervollständigten Dreiakter eine Art postspätromantisches Klangfest. Bei ihm hört sich dieser Zwölftöner so großformatig und edel an, dass man vor allem den Nachhall von Wagner und Strauss heraushört; weniger eine radikale Gegenposition oder Neuanfang. Soviel waltender Erbe und eigenwilliger Fortsetzer wie bei Petrenko hört man selten. Und das nicht nur in den betörend schönen Zwischenspielen mit ihrer symphonischen Wucht, sondern dank der Präzision und Umsicht des Bayerischen Staatsorchesters und des fabelhaften Protagonistenensembles auch in vielen einzelnen Passagen. Salome, Elektra, Lulu – so buchstabiert sich Frauenschicksal in München. 

Was Tscherniakov dem an Oberflächenglanz und durchchoreografiertem Bewegungsschick auf der Bühne hinzufügt, löst Lulu aus dem historisch sozialen Kontext einer Frau, der die Männer besser nicht zu nahe kommen. Künstlerlässigkeit und Mittelklasse-Wohlstand bleiben ebenso Behauptung wie das Schwindelgefühl auf dem Spekulationskarussell und der Aufprall beim Crash oder gar das handgreifliche Elend in der Londoner Absteige. Mit dem abstrakten Glaslabyrinth befreit er sie aber nicht nur aus der Manege der vorgeführten Attraktionen, sondern verfrachtet sie stattdessen in ein Labor zur Selbsterforschung. Von Obsessionen und selbstaufopfernder Hingabe bis zur erlittenen Liebesunfähigkeit und Skrupellosigkeit. Lulu ist das äußerlich strahlende, aber innerlich gefährlich dunkle Zentrum.

In der Welt im Labyrinth geht es nicht viel anders zu. Zu den symphonischen Zwischenspielen ringen eine Unzahl von Paaren um Nähe, kämpfen dann im Krieg der Geschlechter und verharren schließlich erschöpft und gescheitert. Entblößt und erstarrt stehen die Männer mit dem Rücken zur Wand während die Frauen am Boden liegen. Dass die zunehmend psychotischere Lulu da das Messer von Jack the Ripper selbst gegen sich richtet, wirkt da in aller Verzweiflung wie eine Befreiung. Auch aus dem Image der oftmals beschworenen weiblichen Projektionsfläche männlicher Obsessionen.

Kann gut sein, dass diese neue Münchener „Lulu“ in ihrer Laborversuchsklarheit jenseits der Zeitläufte auch ein Missverständnis ist. Aber was für eins!

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