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La Bohème, Foto: © Kerstin Schomburg
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Erinnerung mit Nebenwirkungen – Gelungener Saisonstart am Deutschen Nationaltheater Weimar mit Giacomo Puccinis Dauerbrenner „La Bohème“

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In Giacomo Puccinis Dauerbrenner „La Bohème“ sind die Künste nicht nur brotlos. Zum dauernden Hunger kommt auch noch die Kälte dazu. Die ist so schlimm, dass die vier Freunde nicht nur das Mobiliar verheizen, sondern der Dichter unter ihnen, Rodolfo, dem Ofen sogar ein Manuskript spendiert. Die Leinwände des Malers bleiben nur verschont, weil das zu sehr stinken würde. Mit dem Paris vor der vorletzten Jahrhundertwende als der Stadt der Künste (oder besser der lebenden und darbenden Künstler) ist es also aus der Nähe betrachtet nicht weit her.

Mit Paris als der Stadt der Liebe aber auch nicht. Mimi und Rodolfo finden zwar zusammen, doch glücklich werden sie nicht. Er liebt sie, ist aber eifersüchtig und kann mit ihrer Krankheit nicht umgehen. Und sie ist bei ihrer ersten Begegnung schon so geschwächt, dass sie nicht mal das Ende der Oper erlebt. Wenn sie zum Sterben zu den anderen zurückkommt und die Freunde ihr den letzten Wunsch nach einem wärmenden Muff erfüllen, dann sind sie alle in der Trauer vereint und stehen dem verzweifelten Rodolfo bei.

Doch auch bei dem zweiten Paar, Marcello und Musetta läuft es nicht wirklich gut. Man hat nicht viel. Zu Frust und Eifersucht kommen da schnell die deutlichen und verletzenden Worte, die man sich an den Kopf wirft. Schaunard und Colline haben nicht einmal eine Beziehung – zumindest erfahren wir von keiner. Eigentlich ist das alles ziemlich trist. Doch diese Bohème, diese Lebenskünstler ohne rechten bürgerlichen Existenzgrund unter den Füssen oder in Aussicht, halten, wenn es ernst wird und auf Leben und Tod geht, doch irgendwie zusammen. Deshalb haben diese unordentlichen Existenzen immer die Sympathie des Publikums auf ihrer Seite.

In Weimar vermeiden Bettina Bruinier und ihr Bühnenbildner Volker Thiele jeden pseudocineastischen Überwältigungsversuch, bei dem man im Zuschauerraum wegen der Eiseskälte in der Pariser Künstler WG mitfrösteln müsste. Kostümbildnerin Mareile Krettek hat sie allesamt so heutig und kältesicher angezogen, dass ihre Mütter zufrieden damit wären. Was die emotionale Wucht rund um Mimis Lebensende deutlich relativiert und eher die Beziehungsprobleme der jungen Leute beleuchtet. Die Bühne beschränkt sich auf riesige Lein-Wände. Auf einigen davon erkennt man angedeutete, leere Zimmer. Wenn die ein Großauftrag für den Maler waren, dann wurden sie nicht abgeholt. Und so können sie tatsächlich sein, was ihr Name sagt: Wände. Für die Behausung der Künstler, für die der Hauswirt Benoit (Chang-Hoon Lee) vergeblich die Miete einzufordern versucht. Aber auch für das Café Momus, den Weihnachtsmarkt und die Barrière d’Enfer.

In dieser bewusst Distanz schaffenden und auf die Akteure verweisenden Bühnen-Ästhetik entwickeln sich die Massenszenen im zweiten Akt aus eingefrorenen Menschen-Bildern, schaffen aber gleichwohl so etwas wie eine eigene atmosphärische Opulenz. Opernchor (Markus Oppeneiger/Tobias Kruse) und Schola Cantorum Weimar (Cordula Fischer) sind hier voll bei der Sache und machen das ganz ausgezeichnet.

Hier ist es so, dass sich der Dichter Rodolfo diese ganze Geschichte gerade ausdenkt. Ganz nach dem Motto: „Ich bin der Poet und sie ist die Poesie“. Die zu Beginn und am Ende eingeblendeten Szenenanweisungen lenken den Blick vor allem auf ihn. Rodolfo imaginiert nämlich hin und wieder ein klug dosiert sprudelndes Feuerwerk aus projizierten Buchstaben und Worten (Video: Bahadir Hamdemir). So erschafft er die (oder eine) Geschichte aus seiner Erinnerung an Mimi.

Und liefert die Vorlage für den musikalischen Überwältigungsversuch aus dem Graben sozusagen selbst. Dazu wird Puccinis ausschweifende Herz-Schmerz-Musik noch jedes Mal. Wenn dann noch mit Massimo Zanetti ein pucciniaffiner und in Sachen italienische Oper weltweit dirigierender Landsmann Puccinis am Pult der Staatskapelle Weimar steht, dann ist der Kampf um die Gunst des Publikums schon so gut wie entschieden. Hier wird das italienische Pathos bewusst entfesselt. Dass die Sänger dabei nicht untergehen, liegt neben deren purer Kraft auch daran, dass sie durch die mitunter etwas allzu schlicht eindimensionale Personenführung meistens an der Rampe postiert werden. Aber sei’s drum. Ein Sängerfest gibt es allemal.

Dass Artjom Korotkov sein erstes Forte als Rodolfo dabei etwas verrutscht ist geschenkt. Er wirft sich mit vollem Risiko in die Rolle und empfiehlt sich als vielversprechender Zugewinnn für das Weimarer Ensemble. Nach ihrer phänomenalen Elsa der vorjährigen Spielzeiteröffnung war klar, dass mit Johanni van Oostrum eine Mimi der Extraklasse am Start ist. Sie erfüllte diese Erwartung voll und ganz. Mit ihrem abgerundet leuchtenden Timbre und technischer Perfektion schreitet sie die Partie auf beglückende Weise aus. Steffi Lehmann liefert dazu eine erfrischend kontrastierende, so attraktive wie mitfühlende Musetta. Bei der Herrentruppe imponiert vor allem Alik Abdukayumov als eloquent volltönender Maler Marcello. Bjorn Waag steuert einen etwas arg deftigen Schaunard bei, während Sebastian Campione nicht nur beim Abschied von seinem geliebten Mantel Sympathiepunkte für seinen Colline sammelt.

Weimar kann einen sowohl szenisch als auch musikalisch gelungenen Saisonauftakt verbuchen. Der Beifall des Publikums war denn auch ungeteilt.

  • Nächste Vorstellungen: am 12.9. (20.00), 28.9. (16.00), 02.10. (20.00)

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