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Estnischer Nationalheld der Musik: Neeme Järvi beim Usedomer Musikfestival. Foto:
Estnischer Nationalheld der Musik: Neeme Järvi beim Usedomer Musikfestival. Foto: Geert Maciejewski
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Freiheit durch Gesang: Das Usedomer Musikfestival feiert sein 20-jähriges Bestehen mit dem Schwerpunkt „Estland“

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Seit zwei Jahrzehnten holt das Usedomer Musikfestival die Kultur der Ostseeländer nach Usedom. In diesem Herbst widmete man sich auf der Insel dem Länderschwerpunkt Estland. Der kleine baltische Staat hat nur zwei Millionen Einwohner. Die sind jedoch äußerst sangesfreudig und unterhalten eine facettenreiche Musikszene.

Die wohl wichtigste „Dynastie“ des estnischen Musiklebens ist die Familie Järvi, die komplett nach Usedom anreiste. Der 76-jährige Dirigent Neeme Järvi wird in seiner Heimat wie ein Nationalheld verehrt. Seine Söhne Paavo und Kristjan dirigieren ebenfalls; Tochter Maarika ist Flötistin.

Neeme Järvi leitete das Abschlusskonzert des Usedomer Musikfestivals im Kraftwerk Peenemünde. Auf dem Programm stand auch die „Lyrische“ Sinfonie Nr. 4 von Eduard Tubin, dem „estnischen Sibelius“. Tubin komponierte das Stück 1943 während der deutschen Besatzung Estlands. Die angeschmorte Partitur überlebte in einem Eisenschrank das Bombardement der Roten Armee. 1981 leitete Neeme Järvi im norwegischen Bergen die erste Wiederaufführung nach dem Krieg. In Peenemünde führte er nun mit bedächtiger Gelassenheit das ebenso transparent wie temperamentvoll spielende NDR-Sinfonieorchester durch lichte, schwelgende Klanglandschaften.

Im Kraftwerk Peenemünde fand auch ein Meisterkurs von Kurt Masur mit dem Baltic Youth Philharmonic statt. Geprobt wurden Bruckners Sinfonie Nr. 4 sowie Wagners „Meistersinger“- und „Tannhäuser“-Ouvertüren. Masur arbeitete vor allem daran, dass seine vier Dirigier-Meisterschüler ihre Klangvorstellungen präzise vermitteln. „Es ist kein Kunststück, die Wiener Philharmoniker zu dirigieren“, sagt er. „Ein Jugendorchester braucht jedoch Führung und eine geistige Konzeption.“ Auf dem Konzert der Meisterschüler erhielt Masur den Europäischen Kulturpreis für sein Lebenswerk.

Wie ein roter Faden zog sich die Musik von Arvo Pärt durch das Festival. Pärt studierte im sowjetischen Estland der späten Siebziger die Musik des Mittelalters. Das führte ihn zu schlichten Kompositionen auf Dreiklangsbasis. Der estnische Chor Vox Clamantis zeigte, dass sich Gregorianische Choräle und die geistlichen Gesänge Pärts stimmig ergänzen. Das Ensemble verband religiöse Eindringlichkeit mit sauberer Intonation und einem sinnlich warmen Klang.

„Ich werde oft nach dem Einfluss Pärts auf die jungen estnischen Komponisten gefragt“, sagt der 1971 in Tallin geborene Komponist Jüri Reinvere, der heute in Berlin lebt. „Aber wir gehen unseren eigenen Weg. Doch auch viele zeitgenössische Werke haben eine religiöse Dimension. Das hat mit der tiefen Bedeutung zu tun, die wir Esten der Musik zusprechen. Als wir Teil der Sowjetunion waren, half sie uns, die nationale Identität zu bewahren. In der Singenden Revolution haben wir dann unsere Unabhängigkeit erkämpft.“

Jüri Reinveres kammermusikalisch begleiteter Gesang „Das Weltreich des Mai“ ist von der englischen Romantik beeinflusst. Der Komponist schuf einen zarten Geräuschteppich, der in eine Sommernacht voller Nachtigallen, Frösche und Grillen entführt. Das Stück wurde aufgeführt vom Ensemble Resonabilis, das in der sanften Besetzung von Frauenstimme, Flöte, Cello und Kannel, der traditionellen estnischen Zither, auftritt. Sein Repertoire besteht ausschließlich aus Auftragswerken.

Dazu gehört die Märchenoper „Eisenhans“ von Kristjan Kõrver, der hier die perkussive Qualität der estnischen Sprache zur Geltung bringt. Außerdem erklangen Toivo Tulevs zarte religiöse Gesänge, die vom silbrigen Glitzern der Kannel umhüllt sind. Uraufgeführt wurden Tõnu Kõrvits’ „Fünf Haikus“, die voller tonaler Melodienseeligkeit stecken.

Neue, obgleich nicht avantgardistische Klänge hörte man ebenfalls beim Festivalfinale in Peenemünde. Dort erklang Peeter Vähis Flötenkonzert „Gesang vom himmlischen See“, eine beschwingte Tanz-Suite, in der die NDR-Streicher einen Rhythmusteppich für die orientalisch kreiselnden Eskapaden der Flötistin Maarika Järvi webten.

2014 widmet sich das Usedomer Musikfestival vom 20. September bis zum 11. Oktober dem Länderschwerpunkt Polen.

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