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„Die Frauen der Toten“: Marisca Mulder und Mireille Lebel in der Erfurter Uraufführung. Foto: Lutz Edelhoff
„Die Frauen der Toten“: Marisca Mulder und Mireille Lebel in der Erfurter Uraufführung. Foto: Lutz Edelhoff
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Hawthorne, zweimal gelesen: Zur Uraufführung von Alois Bröders Oper „Die Frauen der Toten“ in Erfurt

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Sind die beiden totgeglaubten Brüder am Ende doch noch am Leben? Dürfen die beiden Ehefrauen also auf die baldige Rückkehr ihrer Männer hoffen, wie die in tiefer Nacht erscheinenden Botschafter verheißen? Oder ist diese Hoffnung nichts weiter als ein Wunschtraum, ein Hirngespinst ohne jede realistische Grundlage? Alois Bröder lässt diese Frage in seinem Stück „Die Frauen der Toten“ genauso offen wie Nathaniel Hawthorne, der mit seiner um 1830 entstandenen Erzählung „The Wives of the Dead“ die literarische Vorlage für Bröders am Theater Erfurt uraufgeführte Oper lieferte.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Mary und Margaret, die vom Tod ihrer Gatten erfahren haben, leiden unter diesem Verlust, bekommen aber – jede für sich und unabhängig voneinander – die Nachricht, die Männer seien gerettet und kämen bald nach Hause zurück. Doch weder die eine noch die andere der Schwägerinnen bringt es fertig, diese doch eigentlich so frohe Kunde miteinander zu teilen. Jede meint, die andere womöglich zu verletzen, fürchtet durch die eigene Freude die Trauer der anderen zu vergrößern. Eine paradoxe Situation!

Gabriele Rech macht aus diesem Stoff eine psychologische Studie, angesiedelt in einer kleinbürgerlichen Dorfgesellschaft Anfang des 18. Jahrhunderts in Amerika, geprägt vom Pietismus und seinem straffen Moralkodex, der in Bröders Oper aber eigentlich nur am Rande eine Rolle spielt: Margaret ist die frommere der beiden Frauen, die sich eher ihrem Schicksal fügt und brav in der Bibel liest. Mary dagegen ist selbstbewusster, weniger religiös geprägt.

Bröder liest Hawthornes Erzählung zweimal nacheinander – und verarbeitet sie auch zweimal: zuerst als „träumerische Realität“, dann als „realistischer Traum“. Zweimal fünfzig Minuten Bühnengeschehen, dazwischen eine Pause. Die Gedanken der beiden Schwägerinnen verlassen vor allem im zweiten Teil das eigene Innere und werden greifbar, in all ihrer Ambivalenz fürs Publikum nachvollziehbar. Fragen stellen sich: in welcher Beziehung stehen die Frauen zum eigenen Ehemann – und dem der anderen? Und welches Verhältnis hat Mary zu ihrem Jugendfreund Stephen, welches Margaret zu ihrem Nachbarn Parker – dies die Überbringer der nächtlichen Kunde vom Überleben der Gatten? Gabriele Rech belässt es bei Andeutungen. Die Imaginationskraft des Zuschauers ist da sehr gefragt.

Bröders Musik, die in keinem Moment verstört, wandelt auf dem festen Fundament der Tonalität. Mitunter schimmern Debussy und Ravel durch seine Partitur, die Kapellmeister Johannes Pell am Pult des Philharmonischen Orchesters Erfurt sehr lebendig, mit kräftigen Farben und großer Präzision umsetzt. Ein ganzes Arsenal an Schlagwerk liefert enormen klanglichen Reiz und verleiht Bröders Musik ihren bildhaften Charakter, mal kommentierend, mal illustrierend.

Es wird großartig gesungen im Erfurter Haus, das sich seit Jahren mit schöner und anerkennenswerter Regelmäßigkeit sowohl um Uraufführungen als auch um Wiederentdeckungen erfolgreich bemüht. Marisca Mulder (Mary) und Mireille Lebel (Margaret) gehen voll und ganz auf in ihren sehr anspruchsvollen Haupt-Partien, bleiben ihnen an Emotionen nichts schuldig. Marwan Shamiyeh und Florian Götz in den kleineren Rollen der Ehemänner beziehungsweise Botschaftsüberbringer sind ebenso verlässliche Partner wie Manuel Meyer als Pfarrer sowie Reinhard Becker, Ralph Heiligtag, Jan Rouwen Hendriks und Tobias Schäfer als Trauergäste.

Alois Bröder wurde nach der Uraufführung vom Publikum gefeiert, ebenso das Regieteam um Gabriele Rech. Ob diese Oper, die streckenweise eher einer oratorischen Meditation gleicht, womöglich an anderen Häusern nachgespielt wird, muss sich zeigen. Der personelle Aufwand jedenfalls ist überschaubar groß, das Sujet allemal lohnend.

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