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Rihms „Tutuguri“ beim Musikfest Berlin. Foto: Peter Adamik
Rihms „Tutuguri“ beim Musikfest Berlin. Foto: Peter Adamik
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Im Artaud-Rausch – Zur Eröffnung des Musikfest Berlin entfachte Rihms „Tutuguri“ ein mittleres Erdbeben

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Am Anfang eine gehörige Portion Verstörung: Kurz bevor Daniel Harding und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bereit sind, sich der zerklüfteten Klangtopografie der nächsten zweieinhalb Stunden zu widmen, geht noch einmal die Tür auf. Ein Mensch stürzt mit rudernden Armen und zuckenden Gliedmaßen in den großen Saal der Philharmonie, der sichtlich Probleme damit hat, seinen Körper zu bändigen – er gibt ungute Laute von sich.

Ein verspäteter Besucher mit weit fortgeschrittener Nervenkrankheit, ein medizinischer Notfall, ein ‚Sicherheitsproblem’ gar? Soll man helfen? Erst als der Verspätete beginnt, inmitten menschenunmöglicher Verrenkungen einen französischen Text zu rezitieren wird evident, dass die Schrecksekunde zur Inszenierung gehört und wir uns schon mitten in der Welt von Antonin Artaud und seinen wilden Visionen befinden.

Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, wird später bei der Eröffnungsrede sagen, dass auch ihn dieser Moment kurz, aber heftig irritierte und genau auf das vorbereitete, was dieses energiegeladene Rihm/Artaud-Doppel zur Eröffnung des diesjährigen Musikfest Berlin versprach: Totale Entsicherung. Es war also weit mehr als eine „konzertante Aufführung“ dieses erstaunlich selten zu hörenden Schlüsselwerkes von Wolfgang Rihm, das obendrein eines der bedeutendsten Schlagzeugkompositionen der zeitgenössischen Musik verkörpert. Rihm schrieb es als 28-Jähriger, im Zenit einer Ästhetik rückhaltloser Expression und Subjektivität: „Tutuguri“, mit vollem Titel „Poème dansé nach dem Gedicht „Tutuguri“ aus dem Hörspiel „Pour en finir avec le jugement de dieu“ von Antonin Artaud für großes Orchester, Schlagzeuger, Chor vom Tonband und Sprecher“ (1980-1982).

Totale Entsicherung

Artauds Gedicht „Le rite du soleil noir“ (Der Ritus der schwarzen Sonne), das auf des Autors wilden Selbsterfahrungstrip bei den mexikanischen Tarahumara-Indianern und deren meskalingetränkte Riten zurückgeht und Rihms assoziative Partitur entscheidend inspirierte (in der Komposition aber mit keinem Wort vorkommt), besorgte also die „Einstimmung“ auf das große Klang-Ganze in vier Bildern. Eine gute Idee, um auch ohne Tanzperformance die poetischen Quellen von Rihms ‚Klang-Dichtung’ freizulegen, ohne der semantisch ungebundenen Musik Gewalt anzutun. Die allzu narrative Choreografie bei der Uraufführung 1982 an der Deutschen Oper Berlin fand bekanntlich alles andere als ungeteilte Zustimmung (auch nicht die des Komponisten) und eigentlich wartet man schon lange darauf, dass Sasha Waltz, die bereits Rihms „Jagden und Formen“ so bezwingend choreografierte, sich des rauschhaften „Poème danse“ annimmt.

Doch zurück in die Philharmonie: Sprecher und Schauspieler Graham Forbes Valentine gab einen schon physiognomisch wunderbar authentischen Artaud ab und vermittelte nicht nur einleitend Wahn und Unmittelbarkeit dieser exzeptionellen Künstlerexistenz mit großer Intensität. Er tauchte auch im weiteren Verlauf immer wieder am Rande des Geschehens auf, als Rezitator mysteriöser Zauberformeln, Urheber seltsamer Lautartikulationen oder „Schreiender Mann“ aus Artauds (mit Sendeverbot belegtem!) Hörspiel „Schluss mit dem Gottesgericht“. Der Protagonist des Abends war aber nicht Artaud und sein Alter ego, sondern naturgemäß das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und seine Schlagzeuger, die unter einem beherzten Daniel Harding, ungemein sinnlich und kraftvoll aufspielten. Eine unabdingbare Voraussetzung um dieses mit lauter Rissen und Brüchen versehene Vorwärtstreiben einer fast schon formlos-impulsiven Musik zu generieren: So wie Artauds „Theater der Grausamkeit“ unmittelbarste Energie aus der Freilegung dunkler Triebkräfte gewinnen wollte, öffnete Rihm die Schleusen für eine Musik, die nicht länger als „Arrangement von mehr oder weniger historisch reflektierten Modellen“ daherkommen wollte, sondern, so der Komponist, „im Rohzustand, als sie selbst, nackt“, als „Wunsch einer befreit-freien Musik, nur ihren eigenen Zwängen hörig, ‚Triebleben’ der Klänge (...) keine Gesetzmäßigkeit außer der Eigengesetzlichkeit.“

Wild, unmittelbar und zügellos

Eruptive Erschütterung und Phasen spannungsgeladener Stille stehen dabei gegenüber mit der Intention „in Atavistisches zu gelangen vor der Gegenwart – wo das Vorweltliche anscheinend beheimatet ist.“ Es war an verschiedensten Stellen offensichtlich, dass die rhythmischen Pulse dieser „Vorweltlichkeit“ ihren Urgrund in Strawinskys „Sacre“ haben, auch dass dieser „Musik-Sturz“ (Rihm) rückblickend nicht frei ist von holzschnittartigen Vordergründigkeiten, die auch ein Rihm heute so nicht mehr komponieren würde. „Tutuguri“ ist eben auch ein Stück der frühen wilden 80er, die in allen Belangen unmittelbar und zügellos waren. Und bei aller Einzigartigkeit dieser Konzeption gibt es auch ‚Vorläufer’ und ‚Geistesverwandtschaften’ in Stücken wie Xenakis’ „Persephassa“ (1969) für sechs im Raum verteilte Schlagzeuger. Aber all das war eigentlich nicht wichtig an diesem Abend. Vielmehr war es überaus aufregend, Klang für Klang zu verfolgen, wie vielfältig und unberechenbar diese orchestral-perkussiven Klangbewegungen sich, aufgehangen an den atavistischen Artaud-Bildern, mit physischer Dringlichkeit ihre Wege suchten, wohin, das wusste man eigentlich nie. Vom nicht nur rhythmisch markanten (Kontrabässe!), sondern auch farblich sehr differenziert agierenden Orchester bekam das auch in den brüchigen Partien die nötige Präsenz und Verbindlichkeit.

An Vehemenz und Präzision nicht zu überbieten

Rihms kultische „Anrufungen“ der ersten drei „Bilder“, seine „schwarzen und roten Tänze“ in dunklen Löchern und schrundigen Felsspalten, seine schreienden Männer und okkulten Laut-Chöre waren aber nur die ‚Vorbereitung’ auf das, was im zweiten Teil kommen sollte: die Feier des „Schlages“ als Urtrieb alles Klanglichen. Was die sechs Schlagwerker Christian Pilz, Bart Jansen, Markus Steckeler, Ignasi Domènech Ramos, Wolfram Winkel und Jochen Ille, nun mit ihren riesigen Trommelbatterien auf sich allein gestellt (unterstützt von zusätzlichen Tam Tams in den oberen Etagen), da an perkussiver Urgewalt auf den Hörer losließen, war an Vehemenz und Präzision schlichtweg nicht mehr zu überbieten. Ein kantiges Wirbeln und Hämmern und Pulsieren, das mit gnadenloser Härte und Genauigkeit sich seinen Weg durch die Philharmonie bahnte, gipfelnd in apokalyptischen Hammerschlägen und Blech-Gewittern, die über einen hereinstürzten wie Häuser. So hatte diese fulminante Aufführung von Rihms Artaud-Hommage in keinem Moment den Beigeschmack des „historischen“, sondern war ein Fanal des Augenblicks, das umso wunderbarer das diesjährige Musikfest Berlin eröffnen konnte, weil es so zwingend vor Ohren führte, dass Musik nicht in Geschichtsbüchern überlebt, sondern nur dort, wo sie gerade klingt, immer wieder neu und anders ...


Das Schlagzeug ist ein zentrales Thema beim Musikfest Berlin 2016. Weitere Termine mit Schlagzeugbeteiligung:

11.9. Varèse, Déserts, Junge Deutsche Philharmonie, Jonathan Nott; Neuwirth, Konzert für Schlagzeug und Orchester (DE); Robin Schulkowsky, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Jakub Hrusa

13.9. Messiaen, Turangalila-Symphonie, Orquestra Sinfónica Simón Bolivar de Venezuela, Gustavo Dudamel

17.9. Saunders, Ire, Konzert für Violoncello, Streicher und Schlagzeug; Saerom Park, Ensemble Resonanz, Enno Poppe

18.9. Varèse & Zappa; Dirk Rothbrust, Ensemble Musikfabrik, Carl Rosman

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