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Spielfreudiges Ensemble: Leoncavallos „Bohème“ in Luzern. Foto: Toni Suter/T+T Fotografie
Spielfreudiges Ensemble: Leoncavallos „Bohème“ in Luzern. Foto: Toni Suter/T+T Fotografie
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Leoncavallo als besserer Puccini? Die „andere“ Bohème in Luzern

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Das kompositorische Wettrennen gegen Giacomo Puccini verlor Ruggero Leoncavallo mit Pauken und Trompeten: Puccinis „La Bohème“ erblickte 1896 das Bühnenlicht dieser Welt, Leoncavallos gleichnamiges Werk erst über ein Jahr später. Puccinis „Bohème“ eroberte bald die Opernhäuser dieser Welt. Leoncavallos Werk hatte gegen diese Erfolgsoper nie eine wirkliche Chance.

Dabei hatte Leoncavallo, der auch Librettist war, den Konkurrenten sogar noch selbst auf den Stoff, den Episodenroman „Scènes de la vie de bohème“ Henri Murgers, aufmerksam gemacht, ihm einen Librettoentwurf zur Vertonung angeboten. Puccini zeigte zunächst kein Interesse an Murgers Milieustudie, besann sich dann aber eines besseren und beauftragte seine Hauslibrettisten mit einer Bühnenfassung des Romans – natürlich ohne Leoncavallo darüber zu informieren. Der hatte längst selbst mit der Vertonung des Stoffes begonnen.

Diese äußerst selten gespielte andere „Bohème“ feierte jetzt im Luzerner Theater Premiere. Und es zeigte sich, dass Leoncavallos Oper völlig zu unrecht in Vergessenheit geraten ist. Eine Menge wunderbare Musik hat sie zu bieten: Zunächst artikuliert sie sich abwechslungsreich und quirlig im Parlandostil der Opera buffa – mit eulenspiegelnden Referenzen aufs Barock, auf Meyerbeer, Rossini und Verdi, auf die leichte Muse. Nach den beiden ersten Akten, die sich dem Leben und Miteinander der Bohème-Szene widmen, fokussiert Leoncavallo das Geschehen auf die Einzelschicksale: auf Musette, die dem Bohème-Leben entfliehen will, auf die tristen Lebensumstände des Malers Marcello, des Dichters Rodolfo und des Musikers Schaunard, auf das Sterben Mimis. In der zweiten Hälfte mutiert die Oper dementsprechend zur großen, tragischen italienischen Gefühlsoper.

Trotz dieses Bruchs liegt Leoncavallos „Bohème“ das interessantere, kritischere Libretto zugrunde. Hier wird keine beschönigte Bilderbuch-Bohème dargestellt wie bei Puccini, sondern das vermeintlich so fröhliche, freie Bohème-Leben kritisch hinterfragt. Einsamkeit und Armut treten als existenzbedrohende Momente ganz deutlich zutage.

Während bei Puccini die Krankheit Mimis und die Charakterunterschiede von Musette und Marcello Gründe für die Trennung der Paare sind, verlassen Musette und Mimi bei Leoncavallo ihre Partner, weil sie die Armut nicht mehr ertragen können. Auch das Thema gesellschaftlicher Ausgrenzung bleibt bei Leoncavallo nicht unberührt: Die wegen Mietschulden plötzlich obdachlos gewordene Musette verlegt das geplante Fest mit ihren Freunden kurzerhand in den Hof des Miethauses. Die Bewohner aber, die sich durch den Party-Lärm bald gestört fühlen, jagen die Künstler in die Nacht.

Die Premiere am Luzerner Theater lebte vor allem durch das junge, spielfreudige, stimmlich auf hohem Niveau agierende Haus-Ensemble: Tanja Ariane Baumgartner (Mezzosopran) gab die Musette fein differenziert im Ausdruck, Jason Kim (Tenor) sang den Marcello trotz Erkältung mit Leichtigkeit und Wärme, Madelaine Wibom (Sopran) brillierte als Mimi höhensicher und mit kräftiger Farbe, Tobias Hächler als Rodolfo konnte seinen gut geerdeten, wohlklingenden Bariton voll zur Entfaltung bringen, und Howard Quilla Croft (Bariton) interpretierte den Schaunard flexibel und witzig. Mark Foster am Dirigentenpult animierte das Luzerner Sinfonieorchester zu einfühlsamer und wohlgeformter Artikulation der quirligen, dann aufwühlenden Partitur, so dass man die Intonationsprobleme und gelegentlich fehlende Präzision der Streicher mit der Zeit vergaß.

Enttäuschend dagegen war die Inszenierung. Nelly Danker, Absolventin des Musiktheaterregie-Studiengangs der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, konnte mit dem Begriff der Bohème offensichtlich wenig anfangen. Murgers Künstler verwandelten sich unter ihrer Regie in Yuppies, zu Angehörigen einer nicht reflektierenden Spaßgesellschaft. Auf welches der letzten Jahrzehnte man sich genau bezog, blieb unklar – nicht nur, was das Bühnenbild (Werner Hutterli) und die Kostüme (Janina Janke) anging. Eine "Bohème" im Sinne einer antibürgerlich und antikapitalistisch geprägten Subkultur von intellektuellen Künstlern wie Malern, Musikern, Dichtern, die sich – koste es, was es wolle – zu geistiger Freiheit und leidenschaftlicher Hingabe an die Kunst bekennen, davon offenbarte sich so gut wie nichts in dieser Inszenierung.

Alles blieb beliebig, an der Oberfläche, viel zu harmlos. Besonders deutlich trat dies im zweiten Akt zutage, in dem die feiernde Bohème – dargestellt von Chor und Statisten – in Kostümen berühmter Persönlichkeiten aus dem letzten Jahrhundert steckte: Brigitte Bardot oder Maria Callas, Frank Zappa oder John Cage, Andy Warhol oder Joseph Beuys – alles renommierte, gut verdienende Künstler der Vergangenheit, die nicht gerade durch ihre radikale Lebensführung am Rande der Gesellschaft in Erscheinung getreten sind. Letzteres aber ist die entscheidende Grundhaltung des Bohémien.

Was ihre Rollenauslegung angeht, blieben die fünf Protagonisten dann auch in den intimeren Akten 3 und 4 konturenlos. Eingepfercht in drei Stellwände, von der Regie zu eher hilfloser Gestik animiert, entwickelte sich das Drama um Hunger, Kälte, Leidenschaft und Tod lediglich auf musikalischer Ebene.
 

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