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Veristisches Glotzer-Tableau. „Nocturno“ von Georg Friedrich Haas in Bonn. Foto: Thilo Beu
Veristisches Glotzer-Tableau. „Nocturno“ von Georg Friedrich Haas in Bonn. Foto: Thilo Beu
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So bleibt man in der Unübersichtlichkeit auf Augenhöhe: „Nocturno“ von Georg Friedrich Haas in Bonn uraufgeführt

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Ein heiteres Ende schreiben ohne Sentimentalität – soviel hatte sich Georg Friedrich Haas vorgenommen wie er gut gelaunt im Vorfeld der „Bonn Chance“-Premiere seiner jüngsten Musiktheaterarbeit „Nocturno“ mitteilte. In dem Maß wie Musik, Text, Szene glücklich zusammenwirken sollten, realisierte sich am Ende auch das erhoffte Ende in Heiterkeit.

Wenn auch nur für einen Moment. Das Suchen einer Frau, der Sappho, nach erfüllender Liebe ließ auf der Zielgeraden der Forum-Bühne, berührendes Schlussbild, auch die realen Paare zueinander finden. Sie und Sie, Sie und Er Rücken an Rücken. In leichter Schräglage, weil wahre Stabilität, so die Botschaft, erst die gelingende Geschlechterspannung stiftet. Das war er dann, der von Regisseur Florian Lutz vermittelte Augenblick der sentimentalitätsfreien Erfüllung, den sich Haas vorgestellt hatte und der im modernen (Musik)Theater so seine Seltenheit hat. Andererseits, wer wollte es den Komponisten, den Regisseuren verdenken, gibt der Blick auf den Zustand der Welt ja in der Tat wenig Anlass, um ausgerechnet auf der Bühne sich finden, sich ver- und aussöhnen zu lassen, was draußen partout nicht zusammengehen will.

Selbstredend standen die Dinge auch mit NOCTURNO, von Haas aus vorhandenem Material teils neu arrangiert, teils neu komponiert, nicht plötzlich Kopf. Im Gegenteil hatte sich Florian Lutz von seinem Ausstatter Christoph Ernst ausbedungen, das Forum der Bundeskunsthalle haargenau jenem Erscheinungsbild anzugleichen, das sich weithin als unsere „Gegenwart“ etabliert hat. Was darin „Innen“, was „Außen“ ist, ist ja desto mehr unklar geworden je mehr die Omnipräsenz der Echtzeitbilder aus allen Winkeln der Welt in alle Winkel des vorgeblich „Privaten“ hineinfuchtelt.

Beklemmende Realität

Also schaute es auch so aus, das NOCTURNO-Spielfeld. Im Kern ein in Sitz-, Nass- und Esszelle aufgeschnittenes Wohnumfeld, dessen Wände großflächig mit Motiven aus den Banalitäten- und Schreckenskammern moderner Fotoarchive tapeziert sind. Verschleierte Bräute, Explosionen, hingemähte Leichen und dazu reichlich Pornografika auf Stellwände montiert. Davor, über Treppen erreichbar, eine Glamour-Tafel, die während der Vorführung mit Tellergerichten serviert wird. Dazwischen spießige Fernsehsitzecken wie im richtigen Leben. Wie überhaupt die Monitore sich in dieses veristische Glotzer-Tableau eingenistet haben wie die Krebserreger in den Blutbahnen. Überall stehen sie herum und kreieren den Peep-Show-Voyeur. Das sind wir, sagt die Regie. Für so etwas wie einen abgetrennten Zuschauerbereich ist kein Platz mehr, weswegen das verehrte Publikum, das sich in diesem von grellem Neonlicht ausgeleuchteten Labyrinth gleichmäßig zwischen Musikern, Statisten und Darstellern verteilte, selber zum Teil des Geschehens werden musste.

Ein sardonischer Kunstgriff. Das Ereignishafte, das Eventmäßige moderner Musiktheaterregie in beklemmender Weise Realität. Da sitzen wir und werden von den beiden Akteuren, den vor allem auch schauspielerisch überzeugenden Sängern (fabelhaft die Sopranistin Ruth Weber, glänzend der Bariton David Pichlmaier) immer wieder ermuntert, dem bereitstehenden Eisschrank alkoholische Getränke zu entnehmen. Ein Angebot, dem manche im Publikum nicht widerstehen können.
Währenddessen sind die Darsteller, die sich im Vortrag ihrer gesungenen Monologe abwechseln, schon wieder an anderer Stelle unterwegs im Labyrinth der Gegenwart. Ein weiterer Regiekniff macht, dass wir im Bilde bleiben. Beharrlich begleitet ein Team aus Kameramann und Kabelträger die mäandernden Gänge der Sänger durch die Statisterie, nur um die NOCTURNO-Bilder live auf die Schirme zu spielen. Schein und Sein auf doppelter Ebene. Die bildgebenden Verfahren, notwendig für die Orientierung in der szenischen Unübersichtlichkeit, hier zugleich Momente analytischer Musiktheaterarbeit. Florian Lutz, dessen Bonner Inszenierung von Juan Allende-Blins DES LANDES VERWIESEN noch gut in Erinnerung ist, hatte sich mit diesem NOCTURNO-Coup zurecht den einhelligen Schlussbeifall verdient.

Am Seil

Und der Komponist? – Dieser wollte den Bonner Operndirektor Klaus Weise nicht hängen lassen als der ihn nach einer Fortsetzung der von Schwetzingen übernommenen BLUTHAUS-Oper von 2011 anfragte. In dieser Situation reagierte Haas ähnlich wie die unter permanenter Zeitnot arbeitenden Großkomponisten der Vergangenheit: Rückgriff auf älteres Material, Anverwandlung auf die neuen Erfordernisse. So wurden ATTHIS für Sopran-Solo auf Sappho-Texte, ein Buson-HAIKU für Bariton-Solo dem neuen szenischen Zusammenhang adaptiert. Und mit NOCTURNO für Frauenchor und Orchester hatte Haas eine weitere ältere, neu komponierte Arbeit titelgebend vorangestellt. Dazu Texte des Haiku-Poeten Yosan Buson, die antike Sappho-Überlieferung sowie Trakl und Novalis.

Alles zusammen hat Haas organisch in schönster Normalverteilung in die Partitur einfließen lassen und auf seine beiden Hauptfiguren verteilt: auf die Frau, die ruhelos umherirrt, teilweise verstörend im Rollstuhl umherfährt und den Verlust ihrer/ihres Geliebten beklagt. Und, humoristischer Akzent, auf den Mann aus dem Buson-Haiku, der achtzig Mal hintereinander die „Kürze der Nacht“ besingt.
Apropos. Die Nacht, das ist die Motiv-Klammer des Abends, hat sich der Komponist in der Vergangenheit ja immer wieder mit dem romantischen, für ihn bewusstseinsschärfendem Nacht-Gedanken befasst. Was die Regie insofern aufgreift als sie das Publikum eingangs mit Augenklappen versieht und am Seil in die Manege führt. So auf sich gestellt, müssen wir orten: Woher das kultische Geplappere des Damenchors des Theaters Bonn, das so wunderbar irrlichtert zwischen Sprechen und Singen?

Weitere real musizierende Begleiter des Abends waren 14 Mitglieder des Kölner ensemble musikFabrik, im Kern die Besetzung aus einem Haas-Favoriten: Schuberts Oktett op. 106. Teils agierten die Musiker von Emporen, teils aus der Szene. In letzterer hatte auch Christopher Sprenger seinen Platz gefunden. Stoisch behielt er die Fäden des musikalischen Geschehens inmitten des scheinbar chaotischen Gewusels in der Hand, hielt zusammen, was zusammen gehörte. Fazit: Neues Musiktheater auf Augenhöhe zur neuen-alten Unübersichtlichkeit.

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