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Die Bläser des Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar. Foto: Kai Bienert
Die Bläser des Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar. Foto: Kai Bienert
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Standing Ovations und vereinzeltes Türenschlagen: Eindrücke vom 14. Berliner Young Euro Classic Festival

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Berlin bot warmes, oft sogar heißes Sommerwetter beim diesjährigen Festival Young Euro Classic. Im Publikum gab es mehr offene Hemden als sonst, während die jungen Orchestermusiker und -musikerinnen trotz der Hitze meist in dunklen Anzügen und langen Kleidern auftraten. Für sie bedeutete eine Einladung ins Berliner Konzerthaus Ehre und Ansporn, erst recht, wenn sie noch nie in Europa konzertiert hatten.

Für das Jugendorchester der Nationalen Universität Mexikos waren speziell für dieses Gastspiel die besten Musiker des Landes durch Probespiele ausgewählt worden.  Unter der erfahrenen Leitung von Sergio Cárdenas, der Berlin auch schon als Komponist kennen gelernt hatte, spielten die jungen Mexikaner Auszüge aus Prokofjews „Romeo und Julia“ -Musik engagiert, aber doch etwas unkultiviert. Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 mit der Pianistin Guadalupe Parrondo kam über respektvolle Korrektheit nicht hinaus. Entspannter und differenzierter wirkten die Musiker dagegen bei den komplexen Rhythmen der Suite „La Noche de los Mayas“ ihres Nationalkomponisten Silvestre Revueltas.  Besonders gefiel der tänzerisch schwebende zweite Satz und der temperamentvolle Einsatz aller 15 Percussionisten im Finale, der „Nacht der Verzauberung“. Danach animierte noch eine ganze Kette mitreißender Zugaben das Publikum. Bei der letzten Zugabe, Paul Linckes „Berliner Luft“, klatschte es kräftig mit und feierte damit auch die nunmehr 20jährige Partnerschaft zwischen den Hauptstädten von Deutschland und Mexiko.

Orchester-Debüts

Die vor drei Jahren gegründete Siam Sinfonietta, die erstmals in Berlin gastierte, bot neben einem Hauptwerk des europäischen Repertoires Stücke aus ihrer Heimat.  Kein geringerer als König Bhumibol von Thailand, das dienstälteste Staatsoberhaupt der Welt, hatte die „Drei Liebeslieder“ komponiert, die zu Beginn erklangen. Man hörte sanfte Klarinettenmelodien zu einer sich ins Hymnische steigernden  Streicherbegleitung – immerhin sollten diese Lieder ohne Worte die auch in Europa bekannte Königin Sirikit verherrlichen. Vielfältigere Charaktere gab es in der Ballett-Suite „Suriyothai“ von Somtow Sucharitkul. Dieser erstaunliche Mann, der in Großbritannien aufwuchs, machte zunächst Karriere als Bestseller-Autor, bevor er sich wieder auf seine Musikleidenschaft besann, Opern komponierte und die Siam Sinfonietta gründete. Die erste Programmhälfte hatte er von dem jungen Trisdee na Patalung dirigieren lassen.  Nach der Pause betrat Sucharitkul selbst schwankenden Schrittes das Podium. Man erblickte eine Art Captain Nemo mit schulterlangem Haar, der den Sitz auf dem Dirigentenpult erklomm, um Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1 zur Aufführung zu bringen. Für die thailändischen Musiker war dies spürbar eine fremde Welt, durch die sie ihr Kapitän jedoch erstaunlich sicher hindurchsteuerte. Einige Charaktere wurden zwar verfehlt, nicht jedoch die Kontraste.

Das Arab Youth Philharmonic Orchestra, das ebenfalls zum ersten Mal zu Gast war, ist ein für die arabische Welt einzigartiges Projekt.  Es geht zurück auf die Initiative des ägyptischen Musikwissenschaftlers und Fagottisten Fawzy El-Shamy, der nach dem in Deutschland absolvierten Studium Dekan des Konservatoriums Kairo wurde.  Nach längeren Vorbereitungen gründete er 2006 dieses pan-arabische Orchester, um Begegnungen über territoriale und religiöse Grenzen zu ermöglichen.  In jedem Jahr trifft man sich zu einer zweiwöchigen Probenphase. Da die Unterstützung durch die ägyptische Regierung inzwischen wegfiel, mussten die 60 Orchestermitglieder aus sechs arabischen Ländern (Ägypten, Algerien, Bahrain, Palästinensische Gebiete, Syrien und Tunesien) auf eigene Kosten anreisen.  In Berlin finanzierte ihnen das Festival eine Probenphase unter Leitung von Heiner Buhlmann, dem langjährigen Leiter des Jugendsinfonieorchesters Bremen.

Allerdings spielen die Musiker auf sehr unterschiedlichem Niveau, wie schon Mendelssohns „Da nobis pacem“ zu entnehmen war. Den sicher geführten Violinen stand eine durchwachsene Cellogruppe gegenüber.  Angesichts der Schwächen bei Celli, Hörnern und Holzbläsern und eines zeitweise überforderten Dirigenten wurde die Wiedergabe von Antonín Dvořáks Symphonie Nr. 8 G-Dur zu einer zwiespältigen Erfahrung.  Glücklicherweise hatte das zur Hälfte aus Frauen bestehende Orchester zwei gute Solistinnen mitgebracht. Nach der Harfenistin Toaa Salah El-Deen bezauberte Nesma Abdel Aziz, deren Karriere ebenfalls an der Oper Kairo begann, als Marimbaphon-Solistin bei Werken von Paganini und Sarasate mit Virtuosität und tänzerischer Eleganz

Professioneller als das arabische  Orchester wirkte das erst 2011 begründete Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar, das wenige Tage  zuvor gastiert hatte.  Unter der straffen Leitung von Michael Sanderling bot der zur Hälfte aus deutschen und israelischen Musikstudenten bestehende Klangkörper nach Werken von Goldschmidt, Mendelssohn und Mahler eine scharf konturierte Wiedergabe der Symphonie Nr. 6 h-moll von Dmitri Schostakowitsch. Einem quälend langsamen Largo standen die wilde Jagd und der grimmige Humor der beiden folgenden Sätze gegenüber.

Zum ersten Mal konnte man auch das Staatliche Jugendorchester São Paulo in Berlin erleben. Es existiert seit 1979 und gehört seit 2012 zu einem Programm der Staatlichen Musikschule São Paulo Tom Jobim, das  90 junge Musiker vor dem Schritt in den Musikerberuf gezielt fördert. Nach einem fulminanten Einstieg mit Verdis Ouvertüre zur „Macht des Schicksals“ enttäuschte allerdings die epigonal wirkende Nr. 7 der „Bachianas Brasileiras“ von Heitor Villa-Lobos – übergroße Ehrfurcht vor dem Thomaskantor hatte hier eigenständige Impulse des Brasilianers weitgehend abgetötet. Tschaikowskys Symphonie Nr. 4 f-moll ging unter der Leitung von Claudio Cruz bei aller Präzision leider oft in undifferenziertes Lärmen über. Dies war umso mehr zu bedauern, als hier die Soli der Holzbläser überzeugten. Ganz in ihrem Element waren die überwiegend männlichen Musiker dagegen bei den brasilianischen Zugaben, welche das Publikum zu stehenden Ovationen hinrissen.

Bewährte Gäste

Mit 25 Jahren, der Altersgrenze vieler Jugendorchester, stehen manche Musiker bereits im Berufsleben.  Ein wirklich junges Ensemble ist dagegen die aus 11-19-Jährigen bestehende Deutsche Streicherphilharmonie, die wiederum durch ihr hohes spieltechnisches Niveau verblüffte.  Musiker zwischen 13 und 21 Jahren bilden das National Youth Orchestra of Wales, das bei der klangprächtigen Einleitung zum dritten „Lohengrin“-Akt ebenso professionell wirkte wie bei den hauchzarten A-Dur-Klängen des „Lohengrin“-Vorspiels. Aber auch bei einem neuen Werk von Joseph Davies und den Symphonischen Tänzen von Rachmaninow sorgte der Dirigent Grant Llewellyn für klangliche Abstufung und Differenzierung.

Einen weniger homogenen Eindruck hinterließ der Abend mit dem Orchestra Giovanile Italiana, obwohl das Programm mit dem Thema „Musik über Musik“ ein übergreifendes Konzept verriet. Aber der französische Dirigent Pascal Rophé war so sehr auf Disziplin bedacht, dass die Musik kaum je frei atmen durfte. Bei Ravels „Tombeau de Couperin“, Alfredo Casellas „Paganiniana“ und der „Suite algérienne“ von Camille Saint-Saëns lag dies auch an übereilten Tempi. Erst Strawinskys „Feuervogel“-Suite konnte zum Schluss stärker beeindrucken.

Auch beim Wiener Jeunesse Orchester war nur wenig jugendliches Temperament zu spüren. Der Eindruck des allzu Erwachsenen und Abgeklärten lag nicht nur an der hier auf 26 Jahre hochgeschraubten Altersgrenze. Es lag auch am Dirigat von Herbert Böck, der offenbar weiterhin streng auf Disziplin achten muss, obwohl er das Orchester seit 1989 leitet. Der einleitende „Blumine“-Satz Gustav Mahlers wirkte noch gehemmt, während Bruckners 7. Symphonie viel geschlossener geriet. Wirklich glücklich wurde man aber erst bei den beiden Zugaben: den „Sphärenklängen“ von Josef Strauß und der perfekt zum aktuellen Wetter passenden „Donner und Blitz“-Polka von Johann Strauß.

Zum bewährten Ritual bei Young Euro Classic gehören jeweils nach der Festival-Fanfare die Ansprachen prominenter Paten. Maren Kroymann leitete den Auftritt der Siam Sinfonietta durch einige thailändische Worte ein, Ilja Richter plauderte und sang bei den Wienern. Ebenso ernste wie persönliche Worte fand der inzwischen 91-jährige Egon Bahr beim Abschlusskonzert mit dem European Union Youth Orchestra. Sigrid Klebba, Berlins Staatssekretärin für Jugend und Familie, hatte in ihrem Grußwort die Förderung junger Menschen gepriesen, ohne allerdings die bedauerliche Situation des Musikunterrichts und der Musikschulen zu erwähnen.

Festivals im Festival

Wie schon in früheren Jahren wurde das Orchesterfest durch ein eintägiges Klavierfestival ergänzt, bei dem sich fünf Preisträger internationaler Wettbewerbe in je einem einstündigen Konzert präsentierten.  Nach der Südkoreanerin Yedam Kim, dem Russen Georgy Tchaidze, der Georgierin Tamar Beraia und dem Deutschen Joseph Moog war abschließend als jüngster Teilnehmer der gerade erst 20-jährige Russe Nikolay Khozyainov mit einem sehr anspruchsvollen Programm zu hören. Scheinbar mühelos bewältigte er die fulminanten Anforderungen von Ravels „Gaspard de la nuit“ und ließ den „Scarbo“ wie irrwitzig vorübergeistern. Nach Chopins klangschöner Barcarolle Fis-Dur bedeutete Liszts h-moll-Sonate den konzentrierten,  im Großen Saal des Konzerthauses mit größter Aufmerksamkeit aufgenommenen Höhepunkt.

Erstmals gab es einen Tag mit Preisträgern des Mendelssohn Bartholdy Hochschulwettbewerbs. So hatte das erst im Vorjahr gegründete Klavierquintett Berlin 2013 einen Sonderpreis in der Kategorie Zeitgenössisches Werk für Bläserkammermusik erhalten.  Mit klaren Konturierungen in Friedrich Goldmanns dreisätzigem Quintettsatz von 1984 sowie bei der Uraufführung eines neuen Werks von Moonhee Lee bewiesen die fünf Studenten und Studentinnen der  Berliner  Hochschule der Künste, dass sie zu Recht ausgezeichnet worden waren. Eine glänzende Leistung bot die in Stuttgart ausgebildete südkoreanische Schlagzeugerin Se-Mi Hwang, die in diesem Jahr beim Mendelssohn-Wettbewerb einen 1. Preis erhalten hatte. Zu ihren Stärken gehörte neben den leisen Tönen bei der zärtlich auf dem Marimbaphon gestreichelten Debussy-Arabeske oder in  „Mirage“ von Yasuo Sueyoshi auch die halbszenische Darstellung beim neuen Werk „wisp“ von Matthias Krüger oder der rhythmische Drive in den Stücken für Schlagwerk und Tonband von John Psathas.

Neue Werke

Bei Young Euro Classic hört man nicht nur bekannte Werke des europäischen Orchesterrepertoires und typische Kompositionen der jeweiligen Gastländer, sondern auch neue Werke in Ur- und Erstaufführungen. Einige von ihnen wurden eigens für das Festival in Auftrag gegeben.  „Aktivierung“ nannte der  Koreaner Moonhee Lee, der bei Dieter Mack in Lübeck studiert, seine Komposition für Bläserquintett mit Klavier. Nach geklopften und geblasenen Einzelereignissen kam es erst am Schluss zu schnelleren gemeinsamen Bewegungen. Stärker überzeugte in seiner Gesamtkonzeption „wisp“ für Donnerblech und Jazzbesen des bei Johannes Schöllhorn in Köln ausgebildeten Matthias Krüger. Das Donnerblech wurde für die zunächst unsichtbare Solistin zu einer Art Rüstung, aus der zuerst nur die Jazz-Besen, dann auch die richtigen Arme herausragten.

Einige der von den Gästen mitgebrachten Werke waren ebenfalls für den Europäischen Komponistenpreis nominiert, so die Ballett-Suite „Suriyothai“ von Somtow Sucharitkul oder die „Arabische Suite“ des 1922 geborenen Ägypters Attia Sharara. Beide Werke, die auch Instrumente wie Darbuka und Tamburin einbezogen, wirkten für westliche Ohren wie gefälliger Exotismus.  Noch mehr verblüffte  die walisische Harfenistin Catrin Finch durch ihren Mut zur Schlichtheit: ihre Komposition „Hedd Wyn“ (eigentlich eher ein Arrangement) für zwei Harfen und Tonband verströmte nur puren Wohlklang. Im Vergleich dazu erwies sich im Rückblick sogar der thailändische König Bhumibol als profilierter Tonsetzer.

Anspruchsvoller fiel „Rose aus Asche“ für Bariton und großes Orchester des in Wien lehrenden Wolfgang Sauseng aus. Mit Anklängen an Gustav Mahler und Alban Berg umkreisten die vier illustrativ gesetzten Lieder den Tod einer geliebten Frau. Modernere Mittel, darunter viel Schlagwerk und eine separat positionierte Trompete, verwendete der 1987 geborene Waliser Joseph Davies, der sich durch ein Gedicht von William Butler Yeats zu seinem von nächtlichen Visionen geprägten Triptychon „Byzantium“ inspirieren ließ. Eine Motette des spanischen Komponisten Tomás Luis de Victoria machte die 38-jährige Italienerin Silvia Colasanti zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Komposition „Responsorium“, die sie Piero Farulli, dem verstorbenen Bratschisten des Quartetto Italiano, widmete. Aus geräuschhaften Klangflächen schälte sich allmählich das Renaissance-Zitat heraus. Nicht zuletzt wegen der erfolgreichen Kombination von Elementen der zeitgenössischen Musik mit der musikalischen Tradition vergangener Jahrhundert kürte eine von dem deutsch-brasilianischen Komponisten Nikolai Brücher geleitete Publikumsjury dieses Werk für den mit 5.000 Euro dotierten Europäischen Komponistenpreis 2013.

Die 34 Konzerte an 17 Tagen waren fast durchweg sehr gut besucht, wenn man auch im Publikum weniger Jugend sah als sonst. In vergangenen Jahren war es wohl auch öfter zu Begegnungen der jungen Musiker untereinander gekommen. Das bedeutet allerdings längere Aufenthalte und damit vermehrte Kosten. Viel Beifall wurde gespendet, manchmal sogar nach jedem Satz einer Sinfonie. Die Besucher dieses Festivals sind begeisterungsfähig und meist aufgeschlossen auch für Unbekanntes. Durchaus untypisch war das Lärmen und Türenschlagen, mit der einige ungeduldige Hörer am ersten Sonntag die Aufführung der „Piano Phase“ von Steve Reich störten. Offenbar hielten sie die minimalen Phasenverschiebungen für eine langweilige  Wiederkehr des Immergleichen.

Wegen Umbaumaßnahmen an der Bühne des Konzerthauses am Gendarmenmarkt muss das Festival im nächsten Jahr auf zwei neue Spielorte ausweichen, was die Festivalleiterin Gabriele Minz als große Herausforderung begreift.  Umso glücklicher ist sie, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin und die Stiftung Klassenlotterie schon jetzt ihre Unterstützung zugesagt haben. Die Berliner Begegnungen mit jungen Musikern aus aller Welt können also auch 2014 weitergehen.

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