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Profeti della Quinta. Foto von Website Profeti della Quinta
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Thüringer Bachwochen: Junger Konkurrent für Alte Meister – Profeti della Quinta

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Die Thüringer Bachwochen 2021 haben nach dem Lockdown statt um Ostern ihren ersten Schwerpunkt Ende Juni und einen weiteren im September. Bis Samstag ist die Originalklang-Formation Profeti della Quinta aus Galiläa Ensemble in Residence. Das erste der vier Konzerte war am Donnerstagabend das Oratorium „Rappresentazione di Giuseppe e i suoi fratelli“ im Dom St. Marien Erfurt. Viel Applaus und wenig Staunen über eine Komposition des 21. Jahrhunderts, die klingt wie authentische Alte Musik.

„Schlafe bei mir!“ fordert Potiphars Frau zweimal. Gleich wird der Erzähler in hebräischer Sprache berichten, wie der fälschlich wegen Vergewaltigung beschuldigte Joseph in den Kerker kommt, aufgrund seiner intelligenten Vorratshaltung zum Vize-Pharao wird und sich mit seinen Brüdern versöhnt. Das Vokalquintett artikuliert sich nach den originalen Worten der Genesis in einer Gaillarde des Bösen und in einer Gaillarde des Bösen. Diese Männerstimmen schlingen sich so treffsicher und stilkundig ineinander wie das spezifische Instrumentarium. Man glaubt ein frühes Oratorium aus der Zeit um 1600 zu hören: Eine biblische Geschichte mit auf wenige Solisten verteilten Rollen, die sich an einigen Stellen zu affektiven Höhepunkten und expressiven Momenten aufschwingt.

Elam Rotem (geb. 1984) kennt sich aus in der Musikgeschichte um den frühbarocken Komponisten Salomone Rossi, der neben italienischen Texten auch hebräische vertonte, und Monteverdi. Bis zum Kantaten-, und Passionentypus von Johann Sebastian Bach sollte es von Rotems Repertoire-Schwerpunkten noch ein knappes Jahrhundert dauern. Die Thüringer Bachwochen setzen immer wieder Schwerpunkte auf neue und neuartige Adaptionen Bachscher Werke – gejazzt, getanzt und elektrifiziert. Jetzt gibt es etwas ganz Außerordentliches, nämlich Neue ‚Alte Musik‘. Natürlich mussten bei Entdeckungen und Fragmenten – prominentes Beispiel: Mozart-Requiem – zwangsläufig Musikforscher initiativ werden und kompositorische Ergänzungen vornehmen, um Werke in eine aufführbare Fassung zu bringen. Aber eine hundertprozentige Neuschöpfung von hundert Minuten Spieldauer auf Höhe zeitgemäßer Expertisen der historischen Aufführungspraxis ist hinsichtlich Länge und Ausführung sensationell.

Die Qualität des Ensembles ebenfalls. Geschliffen und in der rhetorischen Dramatik vollkommen agieren Doron Schleifer als Testo (Erzähler) und der zweite Countertenor David Feldman. Zu einem erstklassigen Vokalensemble der Brüder Josephs mit Stammvater Jakob vereinen sich Dino Lüthy, Dan Dunkelblum, und Elam Rotem selbst. Profeti della Quinta bevorzugt in der Continuo-Gruppe einen dichten Schwingungsreichtum von großer Interaktionskraft. Bei Schlüsselmomenten tendiert Profeti della Qunita zu breiteren Tempi, welche sich im Erfurter Dom St. Marien an diesem verhangenen Sommerabend mit atmosphärischer Dichte entfalten. Niemand könnte erahnen, dass das zugrunde liegende Musikmaterial von 2012 und nicht von 1612 ist. Spannend wirkt deshalb nicht nur das Wie, sondern auch das Was.

Die CD-Einspielung und Konzerte von Rotems „Rappresentazione“ wie zum Beispiel in Köln 2020 werden bewundernd akklamiert. Ein ästhetischer Befund dieser Komposition findet allerdings nur zurückhaltend statt. Anders als die blutjunge Alma Deutscher, die ihre Partitur zur Oper „Cinderella“ als eklektizistischen Sommersalat mit Zutaten von Rossini, Respighi, Rodgers anrichtete, ist Elam Rotem musikalisch im Zeitrahmen um 1600 verifizierbar: Monteverdis „L'Orfeo“ und Emilio de' Cavalieris „Rappresentazione di Anima, et di Corpo“ sind seine Vorbilder. Genau genommen wurden biblische Inhalte erst nach dem Aufschwung der Oper mit mythologischen und allegorischen Sujets und seit 1640 zu dramatisch akzentuierten Oratorien. Somit agiert Rotem in seiner Neuschöpfung nach heutigem Wissensstand doch mit nur verstohlen zugegebener Eigenwilligkeit.

Interessantes Phänomen: Rotems Neue-Alte-Musik entstand nach 2010, als virtuelle Architektur- und Zeitrekonstruktionen, virtuelle Rundgänge und virtuelle Bauvorhaben einen wesentlichen Qualitätssprung machten. Auch Neo-Klassik, die sich proto-tonal geriert, entfaltet sich seitdem als spezifizierbarer Trend. Bis dahin zeigten Stil-Aneignungen wie im Neoklassizismus des frühen 20. Jahrhunderts mit Musik vor 1800, Rock-Arrangements für Sinfonieorchester oder koloristische Akzente meistens eine Differenzierung zwischen eigenen Klangtexturen und der des adaptierten Materials. Rotems Oratorium ist in diesem Kontext demzufolge auf zwei Ebenen ein hybrides Konstrukt: Zum einen verwendet er Gestaltungsmittel der Vorbildepoche für ein damals mit anderen Formen umgesetztes Sujet. Zum anderen will Rotem außer expressiven Schärfungen keinen auffallenden Unterschied zur musikalischen Welt von 1600, wie sie sich nach aktuellem Wissensstand darstellt, und möglichst alle persönlichen mentalen Spuren zur Musik seiner eigenen Lebenszeit tilgen. Damit hatte er Erfolg: Das mit Alter Musik erfahrene Publikum im Erfurter Dom ließ sich von seinem fiktiven Spätrenaissance-Oratorium gerne verführen.

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