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Jean-Edward Kelly als Dirigent. Foto: Website www.johnedwardkelly.com
Jean-Edward Kelly als Dirigent. Foto: Website www.johnedwardkelly.com
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„Unwilling to Compromise“ – Zum Tod von John-Edward Kelly

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Nie zuvor und seither von keinem anderen habe ich einen solchen Klang gehört: John-Edward Kelly bewegte sich mit seinem Altsaxophon mit sphärischer Schwerelosigkeit und in entrückten Höhen mit vollendeter, stets lebendig nuancierter Fokussierung des Tons ohnegleichen. Er spielte in einer anderen Liga als alle Kollegen, und jeder, ob es ihm nun gefallen mochte oder nicht, konnte nicht anders als dies zugeben.

Es ging den meisten Saxophonisten so, wie es Dirigenten widerfuhr, wenn man den Namen Celibidache nannte: Kelly hielt – außer von seinem verehrten Lehrer Sigurd Raschèr – nichts von seinen Kollegen, die er nicht bereit gewesen wäre, als solche zu akzeptieren, geschweige denn etwa als Konkurrenten ernst zu nehmen. Die große Mehrheit spielte ja nicht einmal wirklich ein Saxophon, sondern auf einem falsch gebohrten, aus Bequemlichkeit degenerierten Instrument, das für seine Ohren unerträglich vulgär und verfettet klang. Und es ist unzweifelhaft: das Saxophon in den Händen John-Edward Kellys war ein anderes Instrument, viel nobler, klarer, purer, und natürlich bei aller kristallklaren Schönheit viel weniger attraktiv für all die, die das Saxophon gerade aufgrund des im Jazz so essenziellen „dreckigen“ Tons lieben.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Niemand beherrschte das Saxophon wie Kelly, niemand spielte so sauber, so makellos, so bestechend präzise auch in vertracktesten Rhythmen und Patterns, mit solch äußerster Zärtlichkeit und unfehlbar geschliffener Attacke, stets spannungsbewusst unsentimentaler Innigkeit, so geradezu kalligraphisch konturierend in der vorausprojizierenden Liniengestaltung. Dieses Spiel schien aus einer anderen Welt zu stammen.

Und kaum einer hat sich so mit Leib und Seele der neuen Musik angenommen, ohne im Geringsten für konjunkturelle Maschen anfällig zu sein. Zu Kellys großen Tugenden zählte es, dass er ausschließlich seiner eigenen Wahrnehmung vertraute und daraus sein Urteil entwickelte. Auf diese Weise hat er sich ganz besonders für das Schaffen einiger Komponisten eingesetzt, die nach und nach postum als zu den ganz Großen unserer Zeit gehörend erkannt werden, jedoch zu Lebzeiten so sehr als Außenseiter behandelt wurden wie auch Kelly in seinem selbstgewählten Exil des reinen Gewissens: Anders Eliasson, Tristan Keuris und Pehr Henrik Nordgren zählten zu jenen Meistern, deren Genialität Kelly erkannte und deren Musik er immer wieder in den Fokus seines Wirkens stellte. Der Holländer Keuris (1946–96), sein engster und vielbetrauerter Freund, schrieb für ihn die Sonette für Saxophon und Orchester; in Eliasson (1947–2013) entdeckte Kelly, wie auch der Verfasser dieses Nachrufs, den substanziellsten Meister der Epoche, und dank des Zusammenwirkens entstanden Werke wie die 3. Symphonie mit obligatem Altsaxophon-Solo oder das Konzert für Altsaxophon und Streicher, das mit Juha Kangas und dem Ostrobothnian Chamber Orchestra zur Uraufführung gelangte – keiner hat die Kelly’schen stratosphärischen Tonlagen auf diesem Instrument zauberhafter zu nutzen verstanden als Eliasson; und Nordgren schrieb eines seiner mysteriös monologisierenden, chromatisch schillernden Konzerte für ihn sowie einen ‚Phantasm’, den Kelly auch mit den Münchner Philharmonikern zur Aufführung brachte.

Ich habe John-Edward Kelly 1996 durch Anders Eliasson und Juha Kangas kennengelernt, und wir schlossen schnell eine Freundschaft, die auf gemeinsamen Idealen beruhte. Er hatte sich vom Raschèr Quartett getrennt, weil ihm der Repertoirekurs zu opportunistisch und beliebig geworden war, und man sprach ihn besser nicht auf die ehemaligen Kollegen an, die sich ihrerseits nicht scheuten, es ihm hinter vorgehaltener Hand heimzuzahlen. Geschicklichkeit im Umgang, auch Diplomatie genannt, war das Letzte, was man Kelly hätte attestieren können. Lieber drückte er seine zutiefste Verachtung aus und wurde nie wieder eingeladen, als dass er eine Geste des vorgespielten Konsenses gemacht hätte. Auf seiner Website www.johnedwardkelly.com findet man nicht nur eine Reihe von wertvoll radikalen Aphorismen ein wenig in der Art von Robert Schumanns Ratschlägen, man findet auch einen Abwehr-Artikel gegen Gerüchte rund um seinen Ausstieg aus dem Raschèr Quartett, unter dem Kelly-typischen Titel ‚Setting the Record Straight’. Er war einer der wenigen, die einen solchen Satz mit Recht aussprechen konnten: „I have always been an idealist, unwilling to compromise on my artistic and human principles for any price.“ Was er hier im Übrigen über sich schreibt, sagt mehr aus als jeder noch so kenntnisreiche Nachruf.

Kelly, dessen unsterbliche musikalische Vorbilder Adolf Busch und George Szell waren, ist nicht nur die überragende Erscheinung auf seinem Instrument, dem Altsaxophon gewesen, sondern hatte sich im vergangenen Jahrzehnt auch einen erstrangigen Ruf als Dirigent erworben. In New York gründete er zusammen mit der exzellenten Geigerin Elissa Cassini das Arcos Orchestra, ein Streichorchester, dessen Klang teils inspiriert war von dem des von Juha Kangas formierten Ostrobothnian Chamber Orchestra – ein Ensemble, das Anders Eliasson zu seinem Composer-in-Residence erwählte und erstmals prominent in den USA vorstellte, das auf Deutschland-Tourneen frenetisch gefeiert wurde. All das, was für den Instrumentalisten Kelly galt, traf auch auf den Dirigenten zu: höchste Präzision, Geschmeidigkeit, eine einzigartige Verbindung von elitärem Geschmack und ursprünglichem Musikantentum (wie sie auch für den anderen großen amerikanischen Protagonisten der neuen Musik, Paul Zukofsky, bezeichnend ist), unermüdliche Perfektionierung bei risikofreudigstem Einsatz, und einzigartig souverän hat er ein so komplex dissonierendes Werk wie Eliassons ‚Desert Point’ zu frappant anspringender Entfaltung gebracht.

Zwei CDs mit Werken Eliassons sind bei Neos erschienen, mit Kelly als Leiter des Arcos Orchestra und als Solist. Sie sind das leuchtendste Vermächtnis seines singulären Wirkens als Musiker, dem auch viele Nachwuchskünstler an den Hochschulen in Oslo und Düsseldorf lange Zeit ihren letzten Schliff verdanken sollten. Er hat es nie darauf angelegt, gemocht zu werden, und hat stets alles in seiner Macht Stehende gegeben, um dem zur schlackenlosen Manifestation zu verhelfen, was er als wesentlich in der Musik erblickte. Geboren am 7. Oktober 1958 in San Francisco, ist John-Edward Kelly am 12. Februar im Alter von 56 Jahren an den Folgen seiner Krebsbehandlung gestorben. Er hinterlässt seine Frau Kristin und vier Kinder, für die er bei der Chase Bank in Philadelphia einen ‚The Kelly Children Donation Account’ eingerichtet hat.

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