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Utopie jetzt. Foto: Hufner
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Vom „Aufschrei“ und vom Aufschrei gegen denselben – 11. Ausgabe des Mülheimer „Utopie jetzt!“-Festival

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Im Einführungsgespräch soll der Komponist der bevorstehenden Uraufführung sagen, welche „Gesichter“ von ihm uns in seiner Musik „begegnen“ werden. Ein Begehren, das uns an einen anderen Reporterkollegen erinnert, der einen namhaften Schriftsteller mit der Bitte konfrontierte, er möge doch einmal „mit seinen eigenen Worten“ sagen, was in seinem neuen Buch stehe. Wie also? Künstler, die nicht mehr gelesen, gehört, sondern nur noch interviewt werden?

Eigentlich nicht in Mülheim an der Ruhr, nicht beim „Utopie jetzt!“-Festival, geschrieben mit einem Gegenwärtigkeit entschieden einfordernden Ausrufungszeichen. Die Integration des Zeitgenössischen jedenfalls ist bei diesem dreitägigen Kunstereignis mit vorgeschalteter Schulwerkstatt in und um die Mülheimer Petrikirche gerade Programm. Nicht die Vernachlässigung der aktuellen Produktion konnte Fredrik Zeller also gemeint haben als er in der „Einstimmung“ zum Konzert uns und der freundlichen Interviewerin den schönen Merksatz mit auf den Weg gab: „Die Kunst ist zu Ende, die Dienstleistung lebt!“ Man hörte dieses schöne Bonmot eher als Replik auf bestimmte Arabesken des Vermittlungswesens. Dienstleister gehen um und erfragen bei den Künstlern, was wir uns bei der Musik, die sie schreiben, denken sollen.

„Die Kunst ist zu Ende, die Dienstleistung lebt!“

Womit der schwierige Balanceakt dieses Neue Musik-Festivals rund um neue-alte Kunst im Kirchenraum zur Besichtigung freigegeben war. Der Kasus durchaus bekannt. Als Problem einer verantworteten, die „Weltgeschehnisse“ nicht rundweg ausklammernden Kunst machte es sich auch bei dieser Biennale auf dem Mülheimer Kirchenhügel bemerkbar. Auf der einen Seite war es für die künstlerische Leitung um den Kirchenmusiker Gijs Burger von vornherein klar, dass die Programmierung Echo sein musste auf das „Jahrhundertereignis“ 1. Weltkrieg. Andererseits war das daraufhin ausgegebene Festival-Motto „Aufschrei“ insofern nicht unproblematisch als damit das prinzipiell „Nicht-Festgelegte von Kunst“ (Mitkurator Manfred Schreier im Editorial des Programmheftes) schnell jenen Zementsockel bekommt, der die beschworene Offenheit der Kunst gerade wieder zumacht. Ein Handicap mit zwei Schauseiten. Zum einen das wiedererkennen-wollende Hören, das die dargebotenen tönend bewegten Formen nach Motto-Vorgabe abscannt. Beim großen Samstag­abend-Konzert, traditionell Mitte und Zentrum des Festivals, zeigte sich dann allerdings auch, dass es noch nicht einmal nur ein Problem des Hörens allein ist.

Musik lesen

In Jacob ter Veldhuis bewegendem Martin Luther-King-Oratorium „Mountain Top“, in Mülheim mit der Percussieklas LUCA aus Leuven und mit dem Kammerkoor Maastricht als Deutsche Erstaufführung geboten, ist diese Sockelästhetik denn auch in die Architektur der Musik selber eingegangen. Veldhuis jedenfalls scheint dem „Nicht-Festgelegten von Kunst“ eher zu misstrauen. Wie sonst wäre er auf die Idee verfallen, die letzte Rede des schwarzen Bürgerrechtlers vom April 1968 „I’ve been to the Mountain Top“ nicht nur im klassischen Sinne auszusetzen, sondern als Video mit Textzuspiel zu verdoppeln? Videotechnisch freilich famos gelöst. Toll, wie die lines da in stets wechselnder Gestalt auf die Leinwand fernschreibermäßig eingehämmert wurden. Man las und las und las und wusste auf einmal genau, was die Musik sagen wollte. Hinterher war dem Programmheft zu entnehmen, dass das Stück beim Chicago Martin-Luther-King-Tribute mit Chicago Sinfonietta im Frühjahr des Jahres ein rauschender Erfolg gewesen war. Was nicht verwundern konnte. Veldhuis „Mountain Top“ ist Tombeau, ist Denkmal-Musik mit gegossenem Zementsockel. Bei stimmungsvollen Gedächtnisfeiern muss so etwas einfach der Hit sein.

Ein Festival für Neue Musik stellt andere Ansprüche. Da geht es weniger darum, dass Musik irgendwelche Motti verinnerlicht. Als Geist vom Geist und Fleisch vom Fleisch des populärsten Mediums der Zeit, des Kinos, blieb von der Musik, blieb vom „Nicht-Festgelegten von Kunst“ die Tonspur übrig. Man hörte sie als Illustration. Und auch als Versuch, noch einmal den alten Harmonieglauben zu etablieren. Einen, von dem sich schon ein Arnold Schönberg als Ergebnis des Ersten Weltkrieges verabschiedet hatte. Was für den Komponisten eine schmerzliche Einsicht und von Manfred Schreier im Festival-Kontext als „Quelle“ des „kritischen Komponierens“ in der „Kompositionsgeschichte des 20./21. Jahrhunderts“ reklamiert worden war. Erstaunlich, wie weit die Schere da auseinander geht.

Rebellische Installationen

Allerdings – es machte dann doch die Stärke des Mülheimer „Utopie jetzt!“-Festivals aus, dass es die Gegenposition dazu gleich mit im Programm hatte. Entsprechenden Eindruck hinterließen hier zunächst die beiden „Sirenengesänge“ des niederländischen Komponisten Klaas Hoek. Im einen Fall dargebracht als Open Air-Performance vor der Kirchentür bei regnerischem Schmuddelwetter, fahlem Laternenlicht, ökumenisch organisiertem Glockenzuspiel und weiträumig verteilten Ausführenden. In der Petrikirche dann (immer wieder ein wunderbares Erlebnis dieser Kirchenraum) als Improvisationsmodell für Harmonium, Violoncello und „zwei andere Sirenen“. Der Witz hier: Bis zu den offenbar unvermeidlichen Momenten, da die mit der Handkurbel in Schwung gebrachten Alarmgeräte ihre ganze Klangpracht zeigen müssen, also heulen, was das Zeug hält, bis dahin hielten sich Hoeks kleine rebellische Installationen in einem Ungefähr von Information und Desinformation, also auf dem Hochseil selbst und nicht im Netz von Akklamation.

In dieser Weise operierte die Uraufführung von Fredrik Zeller von vornherein. Dabei  war seine sehr unprätentiös daherkommende „Komposition für Violoncello und Orgel“ insofern zunächst eine Klangbalanceaufgabe für die Beteiligten, für Scott Roller vorn im Altarraum, für Andreas Fröhling oben auf der Empore. Was schließlich die Klanggestalt selber anging, so hatte man durchaus den Eindruck, dass diese ganz aus einem Mischsatz von Grafik und Graffiti konzipiert war. Eine Arbeit irgendwo zwischen Aufschrei und Aufschrei gegen den Aufschrei – so hart, so unerbittlich wie Roller seine Striche und Furchen setzte. Wobei die Klangverstärkung seines Instruments wohl eher dazu diente, die Kerben noch tiefer zu machen als dass sich das Cello gegen die Orgel durchsetzen sollte. Die geballten Entladungen, die Fröhling von oben herunterschickte trafen schon recht zielgenau in die Zwischenräume, so dass da gar nichts verhaken konnte. „Verstehen“ ließ sich das Ganze freilich nicht. Was man verstand, war: Da sind zwei andere Sirenen am Werk, die der Komponist in der Art der autonomen Sprayer ausgestattet und autorisiert hat, damit sie ihre systemische Grundskepsis virtuell an den Kirchenwänden ausleben dürfen.

Danach dann der Versuch, wieder alles ins Lot zu bringen in Gestalt eines süffigen Doppelchor-Stabat maters von Palestrina, dargeboten (etwas wacklig) vom Kammerkoor Maastricht, eingerichtet von Richard Wagner, was in den Niederlanden (wie hinterher glaubhaft versichert wurde) schon für sich genommen ein Sakrileg sei. In Mülheim schien es zunächst als ob diese Schmerz-Wohlfühl-Musik die Spray­attacken davor komplett überdeckt hätte. Dann, man wusste nicht wie, als der Nebel sich lichtete, traten die Kerben wieder hervor. Und damit auf einmal auch ein (in diesem Fall leicht erstarrter) Gesichtszug des Komponisten Fredrik Zeller. Sage keiner, unsere Fragen blieben bei Konzerten unbeantwortet.

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