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Abschlusskonzert im Tel Aviv Museum of Art - Assia Hall. Foto: Rudiger
Abschlusskonzert im Tel Aviv Museum of Art - Assia Hall. Foto: Michael Schorpp
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„Was vergangen ist, ist vergangen. Die Musik steht über allem“ – Mit Dvořáks „Stabat mater“ in Israel

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Der Kontrabass fehlt. Beim Einladen am Flughafen Basel war der große weiße, 28 Kilo schwere Instrumentenkasten noch ein begehrtes Fotoobjekt. Jetzt in der verwaisten Gepäckhalle am Ben Gurion Airport in Tel Aviv warten am späten Freitagabend die Orchestermitglieder der camerata academica freiburg und einige Mitreisende des Freiburger Kantatenchors vergeblich auf das monströse Gepäckstück. Der Großteil des Chores ist schon mittags in Tel Aviv gelandet. Alle Geigen und Bratschen haben den Flug heil überstanden. Selbst die Posaunen und Hörner konnten im Handgepäck transportiert werden. Der Sabbat hat schon begonnen, deshalb sind die Verantwortlichen nicht zu erreichen.

Die zehntägige Konzertreise mit dem „Stabat mater“ von Antonín Dvořák, die im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel und der Städtefreundschaft zwischen Freiburg und Tel Aviv stattfindet, beginnt mit einer Panne. Schweren Herzens steigt Kontrabassist Stefan Krattenmacher, der den Bass selbst gebaut hat und in Israel verkaufen möchte, ohne sein Instrument in den Bus, der die Reisegruppe in den Norden des Landes bringt. Die meisten Orchestermitglieder sind bei israelischen Familien in Tivon und Umgebung untergebracht. Trotz der Verspätung empfangen die Gastgeber die deutschen Musiker herzlich. Ein Schalom, eine Umarmung – dann nehmen die Israelis die Gäste in ihren Autos mit in die laue Nacht.

Im Herbst hatten die Freiburger Laienensembles das hochemotionale Chorwerk, das Dvořák nach dem Tod seiner drei Kinder komponierte, gemeinsam mit dem Choeur Schütz aus Freiburgs Partnerstadt Besancon und einigen israelischen Sängerinnen und Sängern unter der Leitung von Wolfgang Failer bereits in drei Konzerten in Freiburg, Kirchhofen und Besancon aufgeführt. Nun wird Yael Wagner-Avital, die Dirigentin des Tivon Israel Chamber Choir, die Proben und Aufführungen leiten. Die beiden Chorleiter kennen sich, seit sie in den 1980-er Jahren gemeinsam in der Gächinger Kantorei gesungen haben. Yaels deutschen Vater Ephraim, der im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert war und sich danach sehr für die Versöhnung einsetzte, hatte Failer zuvor auf einer Konzertreise in Israel kennengelernt. „Dass ich in Frankfurt bei Helmuth Rilling Chordirigieren studieren konnte, war für meinen Vater ein echter, später Triumph über die Nazis“, sagt Yael Wagner-Avital mit einem Lächeln. Auch in der Chorfreundschaft zwischen Tivon, Freiburg und Besancon spielt der Aspekt der Völkerverständigung eine große Rolle – am Stärksten sicherlich bei einem gemeinsamen Konzert in Auschwitz im Jahr 2007. Der 1975 gegründete Tivon Israel Chamber Choir ist einer der wenigen ambitionierten Laienchöre im Norden Israel. Das Einzugsgebiet ist groß. Einige der rund 60 Mitglieder fahren rund eineinhalb Stunden zu den wöchentlichen Proben. Die 85-jährige Tamara Katznelson ist Gründungsmitglied und immer noch aktiv dabei: „Das gemeinsame Singen ist für uns alle sehr wichtig.“  

Die Last der deutsch-jüdischen Vergangenheit ist beim Probentag im „Pionkowsky Conservatory and Art Centre“ in Tivon nicht zu spüren. Es geht um die richtigen Phrasierungen und eine gute Balance. Yael Wagner-Avital sitzt auf einem Hocker vor dem 45-köpfigen Orchester und dem 120-köpfigen deutsch-israelisch-französischen Chor und führt mit klarer Zeichengebung und trockenem Humor durch das gewaltige Werk. Auch das gut gelaunte Solistenensemble ist mit den Deutschen Philipp Nicklaus (Tenor), Peter Schüler (Bariton), Marion Eckstein (Alt) und der israelischen Sopranistin Yasmine Levi-Ellentuck gemischt. In der Mittagspause kommt man sich bei Falafel, Hummus, gefüllten Weinblättern und frischem Pfefferminztee näher. Bratschistin Katharina Diener stellt ihren Gastgeber Zvi vor, der im Kibbuz Yagur lebt. Mit leuchtenden Augen berichtetet der drahtige 75-jährige von den guten Schulen und der tollen Nachbarschaftshilfe in seinem Kibbuz. „Das Leben läuft langsamer ab. Ich habe Zeit zum Lesen und für die Musik – das ist mir wichtig.“ Schon am nächsten Tag ist das erste Konzert in der ausverkauften Rappaport Hall in Haifa, hoch auf dem Berg Karmel. Der moderne Saal erinnert an ein Multiplexkino, das starke Gebläse der Klimaanlage blättert die Noten der Cellisten um, die auf geliehenen Instrumenten spielen. Trotzdem entsteht an diesem Abend eine besondere Wärme. Nach dem leisen Amen-Schluss, in den das „Stabat mater“ nach dem ekstatischen „In Paradisum“ zurückfällt, hält die Dirigentin noch sekundenlang die Spannung, ehe stürmischer Beifall aufbrandet.

Heftige Publikumsreaktionen

„Solch eine starke Publikumsreaktion habe ich in Haifa noch nie erlebt. Selbst bei Konzerten mit Zubin Mehta nicht“, berichtet die Dirigentin am nächsten Tag sichtlich berührt. Und warnt gleichzeitig mit Blick auf die kommenden Konzerte in Ma’alot und Tel Aviv, nicht in den Freizeitmodus zu verfallen. Im Bus verteilt Ajala Gabai chinesische Orangen, die im eigenen Garten gewachsen sind und mit Schale gegessen werden. Ob wir schon von den Raketenangriffen am Morgen aus dem Gazastreifen gehört hätten, fragt sie. „In den europäischen Zeitungen wird wahrscheinlich nur stehen, dass Israel den Gazastreifen bombardiert hat.“ Die Sicherheitsproblematik, die die ganze Vorbereitung der Reise bestimmte, ist plötzlich ganz nah. „Im letzten Sommer gaben wir ein Konzert in Be’er Sheva. Der Saal war voll besetzt, die Dirigentin kam schon heraus, als wir wegen Raketenangriffen aus Gaza alle den Saal räumen müssen. Während des Gazakrieges hatten wir viele fremde Kinder bei uns zu Gast, die aus den beschossenen Gebieten im Süden in den Norden gebracht wurden.“ Ob auch Araber im Tivon Choir singen? „Nein, die sind musikalisch ganz anders geprägt. Grundsätzlich wäre das aber kein Problem. Und bei den christlichen Arabern gibt es schon viele, die eine westlich orientierte, musische Erziehung genießen“, sagt die Chorsängerin, die mit 7 Jahren aus den Niederlanden nach Israel kam. Insgesamt haben die jüdischen und die arabischen Bevölkerungsschichten nur wenig miteinander zu tun. Die meisten Schulen sind getrennt, obwohl der gleiche Stoff unterrichtet wird. Auch im Stadtbild vermischen sich die Gruppen kaum.

Mit dem Kammerkonzert in „Beth El“ in Shavei Zion in der Nähe von Haifa betreten die Freiburger Ensembles besonderen Boden. Das vom in Bad Liebenzell ansässigen Verein „Zedakah“ getragene Gästehaus ermöglicht hier Holocaustüberlebenden aus der ganzen Welt, kostenlos einige Tage Ferien am Mittelmeer zu machen. Die Heimleitung hat das Konzert in den Garten verlegt. Große Planen spenden Schatten. Palmen, exotische Blumen und eine Hollywoodschaukel schaffen Urlaubsatmosphäre. Eine bemerkenswerte Leichtigkeit liegt über dem Konzert. Als der Freiburger Kantatenchor das jüdische Lied „Donna Donna“ singt, huscht ein Lächeln über die Gesichter der Zuhörer. Das immer schneller werdende „Hevenu shalom alechem“ der Blechbläser wird mitgeklatscht und –gesungen. Danach sitzt man in kleinen Gruppen zusammen und kommt miteinander ins Gespräch. Die russischen und moldawischen Gäste sprechen jiddisch, eine Mitarbeiterin hilft bei der Verständigung. Galina und Roza Israel kommen aus Gomel in Weißrussland. Sie habe das Konzert sehr genossen, sagt die 75-jährige Galina und spricht von Erinnerungen. Gute oder schlechte? „Was vergangen ist, ist vergangen. Die Musik steht über allem“, sagt die Dame mit den kurzen weißen Haaren und strahlt. Auch beim Empfang der Stadt Tel Aviv im Neve Golan Community Centre sind Holocaustüberlebende aus der Nachbarschaft eingeladen. Es ist mit 45 Grad der heißeste Tag seit Jahren in Israel. Im Radio und Fernsehen wurde vor der Hitzewelle gewarnt, erzählen die Israelis. „Wir begrüßen sie mit warmem Herzen“, sagt Radmila Abramov von der Abteilung „International Relations“ der Stadt Tel Aviv. Auch Nathan Wolloch, der Vorsitzende des Stadtrates ist gekommen, um die Gäste aus Freiburg zu begrüßen und die besondere Beziehung der beiden Städte zu betonen: „Wir brauchen Freunde in der Welt“. Auch hier wird bei „Hevenu shalom alechem“ sofort mitgeklatscht und Eliav Blizowsky, Leiter des Büros für Internationale Beziehungen Tel Avivs, schnappt sich nochmals das Mikrofon: „Bringen Sie Frieden für uns“. Und empfiehlt im persönlichen Gespräch danach, in Tel Aviv nicht zu schlafen, sondern zu feiern. Sie würden das mit Kameras kontrollieren, bemerkt er augenzwinkernd.

Am Abend dann das wichtigste Konzert. Die Kritiker sind eingeladen. Mit der Rolltreppe geht es hinunter in die Assia Hall des Tel Aviv Museum of Art mitten im Zentrum der Stadt. Zur Einspielprobe kommt Stefan unter großem Jubel mit seinem weißen Kasten um die Ecke. Nach fünf Tagen wurde der Kontrabass endlich vom Zwischenstopp in Istanbul nachgeschickt. Auch das letzte Konzert wird mit rhythmischem Klatschen aufgenommen.

Der Abschied von den israelischen Gastgebern, die längst zu Freunden geworden sind, fällt schwer. Cheforganisator Itzik Harary, der mit seinem fünfköpfigen Team das von der Stadt Freiburg und dem Land Baden-Württemberg geförderte Mammutprojekt monatelang plante, sagt bei der Geschenkübergabe, er hätte noch Lust auf weitere drei Konzerte. Die Choristen steigen in den Bus nach Jerusalem. Und die Orchestermitglieder, die noch drei Tage in Tel Aviv bleiben, folgen der Empfehlung des Tourismuschefs und feiern die Nacht auf dem Hoteldach.

Georg Rudiger
(Der Autor spielt als Cellist in der camerata academia freiburg und hat die Reise mitorganisiert)

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