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Foto: Jaime Roque de la Cruz
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Wiedergeburt eines bedeutenden Werks an der Opéra de Lyon – Jacques Offenbachs „Le Roi Carotte“

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Jacques Offenbach gehört zu den am meisten verkannten Genies des Musiktheaters im 19. Jahrhundert, auch wenn schon Rossini ihn als „Mozart der Champs-Elysées“ würdigte, der Pianist und Wagnerdirigent Hans von Bülow, Karl Kraus und der Kulturkritiker Egon Friedell ihm Lorbeerkränze flochten. Der Münchner Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades hat Offenbach schließlich auf eine Stufe mit Verdi und Wagner gestellt. Dennoch, die Vorurteile gegen Offenbach, er sei seicht, halten sich hartnäckig, auch wenn sie auf Unkenntnis basieren.

Seit 15 Jahren gibt der Verlag Boosey & Hawkes erstmals eine historisch-kritische Ausgebe der Werke Offenbachs heraus, die der Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck erarbeitet, der neue Quellen erschlossen hat. Von den 150 Bühnenwerken Offenbachs, von denen heute mal eben ein halbes Dutzend gespielt wird, sind inzwischen 30 komplette Werkausgaben erschienen. Die neuste ist die des „Roi Carotte“, der 1869 in Auftrag gegeben, aber wegen des Deutsch-Französischen Krieges erst 1872 im Théâtre de la Gaité uraufgeführt wurde. Nach der Wiederentdeckung der romantischen Oper „Les Fees du Rhin“ ist die erste Wiederaufführung von „Le Roi Carotte“ seit 1876, als das Stück zuletzt in Wien gespielt wurde, die wohl wichtigste Offenbach-Ausgrabung. Das Stück hat, wie Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes betont: „eine ganz entscheidende, zentrale Bedeutung im Oeuvre Offenbachs. Es wurde komponiert auf dem Scheitelpunkt seiner Karriere. Es war das Ende einer Epoche in Frankreich und der Beginn einer neuen. Das Theater funktionierte danach anders und man musste Rücksicht darauf nehmen. Offenbach versuchte mit seinem kongenialen Librettisten Victorien Sardou ein neues Genre zu kreieren, indem er zwei alte, die so nicht mehr zu gebrauchen waren, nämlich die Feereie und die Opera bouffe zu einer Synthese zu führte.“

Mit „Le Roi carotte“ hat Offenbach 1869 ein Stück geschrieben, das zu Recht als geradezu sensationell politisches Stück betrachtet wurde. Mit ihm hat Offenbach dem Zweiten Kaiserreich einen gnadenlosen Spiegel vorgehalten, es ist ein Schlüsselstück über Pariser Verhältnisse. Tatsächlich hat kein anderes Werk Offenbachs seine Feinde und Freunde zu so hitzigen Kontroversen animiert wie dieses Märchenstück frei nach E.T.A. Hoffmann „Klein Zaches, genannt Zinnober“. Es handelt vom König Friedolin, dem schlechten Herrscher, der seiner schönen Gattin zum Leidwesen des Landes allzu sehr die Regierung überlässt. Die von Friedolins Vater verbannte böse Zauberin des Schlosses lässt während einem der spektakulären Hoffeste die Pflanzengeister des königlichen Gartens lebendig werden. Aus den Wurzeln (lateinisch radix) kommen die Radikalen und der rote König Mohrrübe entthront Fridolin, der, um sein Leben zu retten, als Emigrant sein Land verlässt wie weiland Louis-Napoléon. Aber während der frühere König in der Emigration sieht und lernt, stellt sich in der Heimat bald heraus, dass König Mohrrübe um nichts besser, ja schlechter und korrupter regiert als sein Vorgänger. Das Volk erhebt sich, treibt die Gemüse-Geister wieder unter die Erde und setzt den weiser gewordenen Friedolin wieder in seine alten Rechte ein. In der Situation von 1869 ein gewagtes Stück.

Als „Le Roi carotte“ nach dem Deutsch-Französischen Krieg auf die Bühne kam, hatte sich der Zeitgeist zwar gewandelt hatte, aber die Premiere des „Roi Carotte“ wurde dennoch ein rauschender Erfolg. Der Direktor des Théâtre de la Gaité, der ganz auf Féerie, also große Revue und märchenhafte Ausstattung setzte, weil er ein Haus mit fast tausend Plätzen füllen musste, brachte das Stück in 22 Bildern mit über 200 Mitwirkenden auf die Bühne. Über 1000 Kostüme wurden genäht. Es gab einen Eisenbahnauftritt, ein Meer von Musikern, ein gigantisches Defilée verschiedenster Insekten, die Offenbach detailliert beschrieb und spektakuläre Ausstattungseffekte, nicht zuletzt einen Vesuvausbruch über dem antikem Pompej. Sechs Stunden soll das Spektakel gedauert haben. Der Erfolg des politischen Zauber- und Ausstattungsstücks war überwältigend, denn es war ein Stück mit unmittelbarer politischer Vergangenheit und Zukunftsspekulationen. Immerhin saßen im Publikum Republikaner und Monarchisten, Gestrige und Zukünftige. Es wurde in London, New York und Wien nachgespielt, dann verschwand es von der Bühne.

Um das Stück unter heutigen, ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen verständlich zu machen, hat sich Regisseur Laurent Pelly von seiner Mitarbeiterin Agathe Mélinand eine neue, „heutige“, sprachlich recht saloppe Dialogfassung erarbeiten lassen, über die man sich gewiss streiten kann. Was schwerer wiegt, dass er das Stück seiner Feerie beraubt, seines Märchenzaubers. Freilich, da schleift die Hexe Coloquinte als weiblicher Conférencier einen Weihnachtsbaum hinter sich her und versucht die Handlung zu erklären, da kommen Personen aus Schränken und aus der Versenkung, aber es sind doch moderne Menschen von heute, die die vegetabile Revolution samt Konterrevolution spielen, zwischen Archivwänden, Bibliothek, Rolltischen mit Wunderkammer-Exponaten, Ahnengalerie samt tanzendem Chor in Wiener Kongress-Anmutung und Gemüsekistenbarrikaden. Ein übergroßer Vogelkäfig für den Koloraturensingvogel der Produktion und eine gigantische altmodische Püriermaschine, in der am Ende König Mohrrübe entsorgt wird, sind nicht wirklich komisch. Da alle Ausstattungseffekte, einschließlich Vulkanausbruch nur en miniature, im Modellbauformat quasi zitiert werden, kommt die romantische Feerie entschieden zu kurz. Außerdem fehlt das Ballett, und dass die Choristen als Ameisenparade Insektenschautafeln herumreichen, ist ein fader Ersatz für das, was sich Offenbach vorgestellt hatte.

Auch wenn Pelly turbulentes, quirliges Revuetheater abliefert, mit einer Fülle an szenischen Einfällen und virtuoser Personenregie, bleibt die Produktion doch seltsam kalt, kopflastig, bemüht und lässt es an Poesie mangeln. Ganz anders die Musik! Sie erzählt weit mehr, als man zu sehen bekommt. Ein Feuerwerk an Melodien und beinmuskelanregenden Rhythmen. Man hört köstliche Arien, Duette, Ensembles, Chöre, eine überwältigende Sturmmusik und verblüffende, anspielungsreiche Klänge, die Offenbach als stilistisch mit allen Tendenzen seiner Zeit bestens vertrauten Meister der Anverwandlung, der Imitation und Ironisierung zeigen. Er beherrscht die Klaviatur der Opernmusik seiner Zeit und zieht alle Register seines Könnens in diesem Übergangswerk, das man dennoch vielleicht nicht zu seinen genialsten musikalischen Kreationen zählen darf. Aber es ist gekonnte, ständig die Richtung ändernde, gestische Theatermusik, die für pralles Theater geschrieben ist und nach prallem Theater verlangt, das einem – von den witzigen Gemüsekostümen Pellys abgesehen – in Lyon leider vorenthalten wird.

Immerhin ist der junge Dirigent Victor Aviat ein gewissenhafter, feinsinnger wie temperamentvoller Anwalt des Komponisten. Das Orchestre de l'Opéra de Lyon spielt in großer Besetzung einen witzigen, gesalzenen, intelligenten und rebellischen, aber auch romantisch gefühlvollen Offenbach, der das Premierenpublikum begeisterte und zu lang anhaltendem, frenetischen Beifall veranlasste. Dass diese Wiederentdeckung trotz aller Einwände, was die Inszenierung angeht, ein Erfolg genannt werden darf, dem an wünscht, dass er eine Renaissance des Werks initiiert, ist auch einem erstklassigen Sängerensemble zu verdanken, in dem Julie Boulianne als Robin, der in Sachen Offenbach erfahrene Tenor Yann Beuron als Fridolin XXIV., der vorzügliche Charaktertenor Christophe Mortagne als krächzender König Carotte, de Sopranistin Chloé Briot als Rosé-du-Soir und Antoinette Dennefeld als freche Cunégonde in Reifrock und Turnschuhen überzeugten. Ein großer, beglückender Abend, schon weil man endlich (wenn auch gekürzt) ein bedeutendes, dem Vergessen entrissenes Werk jenes Komponisten hören durfte, über den sogar Richard Wagner, zwar nicht öffentlich, aber doch in einem Brief an Felix Mottl eingestand, er schriebe „wie der göttliche Mozart“.

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