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Amok – Schießereien auf dem Schulhof

Untertitel
Die Tragödie von Erfurt 2002 und die musikalische Aufarbeitung · Von Jürgen Stark
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Das Thema will nicht weichen, dafür sorgen auch Bücher und sogar Songtexte junger Musiker. Wenn die Kids zur Waffe greifen und wild um sich ballern, ist stets Erschrecken und routinierte Betroffenheit angesagt, „Beileidstourismus“ nannte das einst Kanzler Kohl in schonungsloser Selbstentblößung der politischen Kaste. Einige Kulturschaffende weisen mahnend auf Hintergründe und Defizite hin, fordern Maßnahmen – nur will das keiner hören…

Es geschah am 26. April 2002. Im Erfurter Gutenberg-Gymnasium geht um 10.58 Uhr Robert Steinhäuser mit hinterm Rücken gehaltener Pumpgun Richtung Schulsekretariat. Um 11.17 Uhr hat er ein Massaker hinter sich. 16 Menschen liegen erschossen auf dem Boden, sich selbst richtet der Täter mit den letzten Worten „Für heute reicht’s“. Als die Dresdener Autorin Ines Geipel jetzt das gleichnamige Buch zum Thema vorlegt, erlebt sie ein Wunder. Wo eben noch angeblich nach neuen Wegen innerhalb des schulischen Alltags gesucht wurde, wo man sich vollmundig den Ursachen und Hintergründen blutiger Taten von jungen Menschen widmen wollte, begegnet man ihr nun mit Drohanrufen und Beschimpfungen; in der Bild-Zeitung gibt Christiane Alt, die Direktorin des Gutenberg-Tatortes, ignorant zu Protokoll, dass dieses Buch „überflüssig sei“. Die Autorin hat vor Ort recherchiert, Betroffene gefragt – doch etliche wollen jetzt nie mit ihr gesprochen haben, ein feiger Komplex tritt zutage, das Wegsehen bei Untaten, das politisch oft in der Nähe zu rechtsextremem Gedankengut steht. Dem Spiegel sagt die Autorin: „Es wurde nie explizit gesagt, dass die Tat in Ostdeutschland passiert ist … Die spezifische Identitätsschwäche der Elterngeneration verlängert sich in den Jahren der politischen Neuordnung in Ostdeutschland – in der Zeit also, da Robert Steinhäuser nächtelang vor dem Computer sitzt – wirkmächtig in die Kinder hinein.

Das Buch montiert Fiktion und Realität, gibt hierdurch dem Leser assoziative Möglichkeiten, die offenbar keiner wünscht – die Betroffenen fühlen sich ertappt, in ihrer Lethargie, ihrer resignativen Haltung, ihrem Dienst nach Vorschrift in den deutschen PISA-Schulen: davon künden diverse Abwehrreaktionen und Autorinnenbeschimpfungen von Lokalpolitik, Stammtisch und Gutenberg-Kollegium. Das macht das Buch empfehlenswert, es zeigt, dass das Umfeld keine Schuld haben will und sich jede Einmischung in den geistigen Amok an unseren Schulen verbittet.

Auf weniger mürrische Reaktionen im pädagogischen Bereich stieß das frühzeitiger nach dem Erfurt-Massaker veröffentlichte Buch aus dem Berliner Archiv der Jugendkulturen: „Der Amoklauf von Erfurt“. Nun, hier berichten auch Schulpsychologen, schreibt die Schulleiterin Alt selbst, ist alles unter politisch-sozialer Kontrolle, hat selbst die Kripo das Wort. Das soll den Wert dieser Publikation keinesfalls schmälern, es ist aber mit Sicherheit eine der schwächsten Veröffentlichungen des ansonsten verdienstvollen Jugendkulturarchivs, worüber auch der pädagogische Zeigefinger gegen den „Amok in der Mediengesellschaft“ (dieses Buch vermarktet selbst die Bluttat!) und den „Mythos der Ballerspiele in der aktuellen Computerspiellandschaft“ nicht hinwegtäuschen kann. Herausragend allein Reinhard Kahl, der mit „Fragen an das System Schule“ skandalöse Schwächen unseres Schulsystems benennt, diese bestehen laut Kahl unter anderem darin, „dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern“.

Persönlichkeitsbildung hat in der Kultusministerkonferenz halt nie jemand angemahnt, Berufspolitiker und Beamte haben andere Sorgen. Die Schule ist heute der Hochsicherheitstrakt des harmoniesüchtigen deutschen Mainstream, in dem Schüler weder zu leise noch zu laut sein dürfen, wo das Mittelmaß streng verordnet und exekutiert wird. Kahl zitiert auf den Punkt Peter Sloterdijk: „Schüler verlassen die Schule nach 13 Jahren wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“ Thematisiert wird nicht, dass Schulen und Lehrer in ihrem Bemühen beim Ranking um positive Noten ihrer Anstalt gern wegsehen, verschweigen, die Medien beschimpfen, wenn die auf dem letzten Dorf in der Schule Gewalt aufdecken und darüber in der Kreiszeitung berichten. So führt der Weg der Gewaltbeobachtung zwangsläufig in die jüngst medial aufbereiteten Skandale an deutschen Berufsschulen, wo Schüler monatelang von Mitschülern sadistisch gequält wurden. Gesehen haben will das niemand, man will ja nicht mit solchen Geschichten in die Medien, gell?! Der Beamtenlaufbahn schadet schlechte Presse, da kann nicht sein, was nicht sein darf.

Hautnah am Thema sind die jungen Musiker von Chicago Jazzz, die auf ihrem Album „Hip Gun Rock“ in dem Song „Amok“ das Gefühlsleben des Amokläufers nachzeichnen. Hier ist der Finger am Abzug, fühlt der Scharfschütze das Adrenalin, kitzelt ihn die Macht über Leben und Tod, wird die Eitelkeit des Außenseiters bedient. Sänger Thomas Baumgärtl über die Psyche des Amokläufers: „Er ist zutiefst verletzt, hat Schlimmes erlebt. Es haben sich persönliche Dramen abgespielt, die außer ihm keiner versteht. Das kann in Beruf, Schule oder Familie sein. Er läuft plötzlich nebenher, aus der Reihe, kommt auf den Ego-Trip, sieht seine Umwelt nur noch feindlich. Es bauen sich starke Emotionen und Wünsche nach Rache auf. Er spürt seine Wut, die sich wie Lava in einem Vulkan sammelt. Der Druck wächst, der Vulkan will ausbrechen – und dann knallt es.“ Für den 22-Jährigen Dresdener sind die Gesichter potentieller Attentäter überall zu sehen, sie bewegen sich in einem ideal-aggressiven Umfeld, denn wer den Alltag an deutschen Schulen kennt, der weiß von einem Klima, in dem Äußerungen von Kollegen über die ihnen anvertraute Klientel (wie folgend) keine Seltenheit sind: „Der kann doch nichts“, „die Alte bringt doch gar nichts zustande“, „das Arschloch sollte lieber den Mund halten“. Der gereizte Ton, Schüler, die den Hass einzelner Lehrer zu spüren bekommen, Teile einer ausgeblendeten Realität.

Baumgärtl: „Man sollte sich endlich intensiv mit den Ursachen befassen, mit Gewalt als Reaktion auf Gewalt, mit Gewalt, die überall bei uns entsteht. In dem Amok-Song fehlt bewusst jegliche Distanz, so wird die Macht der Gewalt entblößt – und die kann ganz unauffällige Kids befallen, Menschen, von denen man solche Taten eigentlich nie erwarten würde.“ Richtig ist, dass Gewalt bei uns erst immer dann ein Thema für die Verantwortlichen ist (dazu gehören auch die Elternhäuser!), wenn sie exzessiv ausbricht. Na dann, bis zum nächsten Amoklauf…

P.S. Der Autor hat letztgenannte Äußerungen von Schulleitern und Pädagogen über Schüler im genannten Wortlaut während seiner Arbeit als Projektleiter der SchoolTour persönlich gehört – er hat Zeugen für diese und andere Äußerungen auf ähnlichem Niveau, die das Schulsystem und sein Personal teilweise infrage stellen und auf ein aggressives Schulklima hinweisen, welches endlich öffentlich gemacht und kritisch erörtert werden sollte.

Literatur, Diskografie

Chicago Jazzz
Album/CD: Hip-Gun-Rock unter anderem mit dem Song „Amok“, Hip Gun Records/AL!VE/BMG Berlin
www.chicago-jazzz.de

Archiv der Jugendkulturen (Hrsg.): Der Amoklauf von Erfurt, Jugendkulturen Verlag KG/Verlag Thomas Tilsner. In Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen
www.jugendkulturen.de

Ines Geipel: Für heute reicht‘s, Rowohlt Berlin, 252 Seiten, E 16,90, ISBN 3-871344-79-6

 

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