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Wolfgang Rihms Tutuguri wird zum Musikfest Berlin aufgeführt. Foto: Charlotte Oswald
Imposantes Gewächs: Wolfgang Rihm. Foto: Charlotte Oswald
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„In Karlsruhe gibt’s derzeit Wolfgangwochen“: zur Eröffnung der 21. Europäischen Kulturtage mit Rihm-Schwerpunkt

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Die Lichthöfe der Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe wurden am Eröffnungswochenende der 21. Europäischen Kulturtage zu einem Ort der Musik – Musik von und für Wolfgang Rihm, dem das diesjährige Festival unter dem Titel „Musik baut Europa – Wolfgang Rihm“ gewidmet ist. Neben einer besonderen Würdigung durch fünf „Konzertante Plastiken“ am Freitag setzte die SWR2 Kulturnacht am Tag darauf Akzente.

Rohe Urgewalt und Plastizität

Es begann mit der rohen Urgewalt von „Tutuguri VI [Kreuze]“ für sechs Schlagzeuger, dem „Raketenstart für das Festival“, so Achim Heidenreich, Programmplaner der Europäischen Kulturtage. Gemäß den Anweisungen in der Partitur waren die Musiker wie eine „begehbare Klangplastik“ auf verschiedenen Ebenen im Lichthof der HfG aufgestellt. So positioniert konnten die Musiker die Architektur des offenen Raumes klanglich ausleuchten, die eruptiven Perkussionsklänge trafen dabei gewissermaßen als höhere Gewalt auf die Zuhörer, welche tief beeindruckt zurückblieben. Das ist Musik im „Rohzustand“, nackt, wie es Rihm formulierte – großartig realisiert durch das Isao Nakamura Percussion Ensemble.

Im Anschluss griff das Projekt „Konzertante Plastiken“ gerade dieses zentrale Moment in Rihms Musikdenken auf: Plastizität. „Ich habe die Utopie, dass ich den Klang anfassen kann, dass ich während ich komponiere, der Klang fast selber bin!“, schrieb Rihm einst. Im Auftrag der Stadt Karlsruhe und gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung schrieben fünf Komponisten/-innen eine ganz persönliche Hommage an den Freund, Lehrer und Weggefährten Rihm: Olga Neuwirth, Rebecca Saunders, Pascal Dusapin, Markus Hechtle und Peter Ruzicka würdigten ihn durch eine Komposition, speziell für den Ort der Uraufführung im Lichthof der HfG und speziell für das Ensemble TEMA, das vor zwei Jahren unter anderem in Vorbereitung für die „Konzertanten Plastiken“ an der HfG gegründet und nun von den Instrumentalisten der Hochschule für Musik Karlsruhe ergänzt wurde. Vorgabe war zudem, dass sich das Stück an der Besetzung seiner 1997 in Karlsruhe uraufgeführten „Études d’après Seraphin“ orientiert.

Ein spezieller „Rihm-Klang“ hielt die Stücke zusammen und erzeugte darüber hinaus klangfarbliche Beziehungen. Kann ein Geschenk persönlicher sein? Der Geehrte zeigte sich nach jeder Uraufführung jedenfalls tief bewegt. Jede der „Konzertanten Plastiken“ schimmerte innerhalb der großdimensionierten Halle in unverwechselbarem Licht. Besonders Markus Hechtles „kleines Licht“ für Ensemble rührte im Innersten: Eine schnell aufsteigende Linie der Violine, am Höhepunkt krass torpediert durch die scheppernde Wucht des Beckens; immer wieder störte es hinein in die subtilen mal flächigen, mal linearen Gestalten, die mit ihrem sphärischen Charakter den großflächigen Hallenraum durchfluteten. Kein Entwicklung schien dem Stück innezuwohnen, stattdessen gerät es immer wieder ins Stocken. Die instrumentale Raumklangkunst der Engländerin Rebecca Saunders stach ebenfalls hervor: „Stirrings“ für neun Solisten sieht wie bei Hechtle die Zerstreuung der Musiker im Raum vor. Mit einer breiten Palette an neuen Spieltechniken gelang es der Komponistin durch das Ensemble TEMA, den Sog einer unfassbaren, surrealen Klangwelt zu evozieren. Über dem erdigen Schnarren des Cellos schwelen lichte Klangnester, immer am Rande ihrer Existenz – bis sie zuletzt verglühen.

Ziel der „Konzertanten Plastiken“ sei „Gratulation durch Würdigung“ gewesen, betonte Achim Heidenreich in einem Gespräch. In der Tat wurde Wolfgang Rihm durch die fünf Werke etwas zurückgegeben, das die eigene Handschrift jedes seiner Wegbegleiter trug, und gleichzeitig Bezug zu ihm herstellte: durch die Séraphin-Besetzung, den Gedanken einer Plastizität von Musik und den damit verbundenen, in die Stücke hineingetragenen Ort der HfG – der Rihm seit ihrer Gründung 1992 eng verbunden ist.

Rihm und der afrikanische Palaverbaum

Am darauffolgenden Tag setzte sich die Würdigung in anderer Weise fort: Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg spielte im Lichthof der HfG neben zwei Werken von Rihm auch Brahms und Sibelius, deren Musik der Komponist sehr schätzt. Ergänzt wurde das Konzert von Gesprächsrunden, die den Rihm als Person und sein Schaffen in den Mittelpunkt rückten. Ein Aspekt sei herausgegriffen, denn eine bildschöne sprachliche Würdigung erfuhr Rihm in einer solchen, von Dietrich Brants moderierten Gesprächsrunde: Peter Sloterdijk verglich den Komponisten mit einem afrikanischen Palaverbaum „unter dem man sich großartig versammeln kann“. Der Palaverbaum sei ein imposantes Gewächs mit weitgespanntem Astdach und daher unglaublichem Schattenwurf, von dessen Stoffwechsel im Inneren die Außenwelt wenig erfahre, ausgenommen, dass eine ungewöhnliche Innerlichkeit sich in das Kleid massiver Äußerlichkeit eingewoben habe. Sämtliche Begriffe der Musiksprache Rihm spiegeln sich in diesem sprachlichen Bild, zum Beispiel der der Wucherung oder des Wachstums. Insgesamt gesehen erwiesen sich die Gespräche als wunderbare Kontexterweiterung und trugen zu einer, wenn auch nur an der Oberfläche kratzenden Auseinandersetzung mit Rihms Musik(denken) bei.

Das SWR Sinfonieorchester gilt nicht ohne Grund als eines der besten für zeitgenössische Musik. Seit ihrer Neu-Gründung 1950 ist es eng mit den Donaueschinger Musiktagen verbunden, etwa 400 Kompositionen führte es dort erstmals auf, unter anderem Musik von Hans Werner Henze, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann oder eben Wolfgang Rihm. Bereits mit Rihms „Drittem Doppelgesang“ für Klarinette und Viola machten die Musiker ihrem Ruf als eines der besten Orchester für zeitgenössische Musik alle Ehre. Höhepunkt war in der zweiten Programmhälfte dessen „Magma“. Dröhnende, eruptiven Klangbrocken wirbelten im Lichthof umher. Nicht zuletzt die sagenhafte Akustik des offenen Raumes führte dazu, dass gerade die massiven Erschütterungen des orchestralen Vulkans erschreckend fühlbar wurden. „Magma“ lies zuletzt niemanden kalt.

Rihm trat sogleich auf die Bühne um sich zu bedanken: Heute habe er das Stück zum ersten mal „toll und richtig und ungeheuer“ bekommen. Dem fügte er nachdenkliche Worte an. Er nutzte den Moment, der eigentlich ihm und seinem Werk galt, um klarzustellen, wie er zu den Sparplänen des SWR steht: „Da wird der Ort aus dem ich stamme, das Südwestfunkorchester, zerstört. Verstehen Sie meine Betroffenheit? Ich möchte einfach sagen: Wir müssen jetzt alle zusammenstehen, dass das nicht passiert: Das erregt mich ungeheuerlich!“ Er unterstrich damit doppelt und dreifach, wie tief er sich mit diesem, „seinem Orchester“, verbunden fühlt und warf damit (ge)wichtige Worte in die unsägliche Diskussion ein – mit der Einschmelzung des Orchesters setzen die Verantwortlichen schließlich auch die Zukunft der zeitgenössischen Musik aufs Spiel: „Was wären wir Komponisten ohne Orchester, ohne Musiker: Dann gäbe es uns gar nicht.“

Mit dem fulminanten „Raketenstart“ in das Festival hinein lieferte das Wochenende in der HfG eine Vorschau auf das, was die Besucher bis zum 6. April in Karlsruhe erwartet. Wolfgang Rihm sagte in der Gesprächsrunde mit Dietrich Brants: „In der Österreichischen Gastronomie gibt es die Wildwochen. In Karlsruhe gibt's derzeit die Wolfgangwochen“. Daran wird man sich allerdings nicht so leicht überessen können – was er noch im gleichen Atemzug befürchtete. Jeden Tag finden zwar interessante Veranstaltungen statt, allerdings sorgen die vielfältigen und oft auch zeitgleichen Angebote auf ganz natürlichem Wege dafür, dass die Besucher auswählen (müssen).

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