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Prinzessin Clarice, Nichte des Königs (Cristina Melis). Foto: Olaf Struck
Prinzessin Clarice, Nichte des Königs (Cristina Melis). Foto: Olaf Struck
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Unverdauliche, doch poetische Genüsse eines Hypochonders – Kiel treibt sein Spiel mit Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“

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Sergej Prokofjew hat der Nachwelt „Die Liebe zu den drei Orangen“ hinterlassen. Was da vor fast genau 100 Jahren uraufgeführt wurde, ist ein Stück, das seine Komik daraus bezieht, dass es sich immer wieder selbst im Wege steht. Die Folge ist, dass es für sich keine Richtung finden kann. Soll es tragisch, komödiantisch oder lyrisch sein oder etwas nur für Hohlköpfe? Das wird im Prolog gefragt, dort nicht geklärt, später auch nicht.

Problematischer noch ist der Plot selbst. Der verquirlt in einer Fantasiewelt ein Personal unterschiedlichster Herkunft. Zauberer und Feen oder andere handfeste Märchenfiguren wie König und Prinz treten auf, solche aus einer Traumwelt oder die Typen aus der deftigen Commedia dell’Arte. Will man etwas deuten, stößt man auf eine überbordende Melange aus Psychologie und Morbidität, aus Intrige und Machtleben. Dies sinn- oder einfach nur lustvoll auf der Bühne zu präsentieren, ist wahrlich keine leichte Aufgabe.

Kiel versucht es etwas einfacher (Premiere: 18. September 2021). Zum einen widmete man sich der skurrilen Phantastik mit Anleihen an noch immer nicht Vergangenes, zum anderen mit einer spielerischen Kindlichkeit. „Peter und der Wolf“ blitzt da durch, die klangvolle Geschichte, die bei Klein und Groß bis heute ankommt. Warum also nicht aus Kindersicht an das heikle Gebilde herangehen und es als Familienstück verkaufen? Selbst wenn die 15 Jahre ältere „Liebe zu den drei Orangen“ musikalisch heftiger ist, als die beliebte musikalische Erzählung, bedient sie doch das Gehör wohlig und differenziert. Da sind der ohrwurmige Marsch und stimmungsvolle Untermalungen oder dramatische Kommentare. Daran, dass alles gut ankommt, haben vor allem die Kieler Philharmoniker unter Benjamin Reiners Leitung respektablen Anteil.  

Grundfarbe gelb

Sie saßen auf der Bühne, weit im Hintergrund. Eine knapp meterhohe Mauer trennte ihren Spielbereich von der Aktionsfläche davor (Ausstattung: Pascal Seibicke). Sie überdeckte den Graben, in den die Musiker sonst gesteckt werden, mit einem glatten und gelben Boden und einigen Stufen davor. Damit waren die Akteure den Zuhörern ganz nah, auch die muntere Kinderschar, die gleich anfangs das Zepter in die Hand nahm. Sie drückten Ulrich Frey, den Dramaturgen, kurzerhand von der Bühne, als der Einführendes von sich geben wollte. Damit war die Rangfolge geklärt.

Auch die Erläuterungen des Prologs wurden verkürzt und führten gleich mitten in die Problematik. Das war der Jammer des betrübten königlichen Vaters um die die Dynastie gefährdende Gemütskrankheit des Prinzen, erworben durch unverdauliche und hinterlistig zugeführte Poeme. Er wurde in einem Glaskasten auf die Bühne geschoben, der stark an ein Beatmungsgerät erinnerte, eines jener pandemisch überanstrengten Aggregate. Immerhin hatte er als Prinz und sicher als Privatpatient gleich eine Schar von übermäßig dicken und dem krankenhäuslichen Dresscode unterworfenen Ärzten um sich. Sie waren ebenso überaus gut genährt wie der König selbst und seine Schranzen, der Berater Pantalone (Samuel Chan), der Bodenpfleger und Spaßmacher Truffaldino (Musa Nkuna) oder Celio, sein Zauberer und zugleich Beschützer (Matthieu Abelli). Alle waren sich darin einig: genesen könne der Prinz nur durch Lachen, das zu erzeugen der König (Ks. Jörg Sabrowski) befahl, das aber erst ein Zufall auslöste. Als es dann befreiend aus ihm herausplatzte, sang Michael Müller-Kasztelan diese Arie so ansteckend, dass selbst im Publikum gelacht wurde. Schade nur, dass die Regie diese Pointe mehrmals mit anderen Personen wiederholte. Es blieb kein Sonderfall.

Drei Orangen

Als er lachte, wusste er noch nichts von seiner Strafe, dass er drei Orangen lieben sollte. Sie bei der Köchin zu klauen, war eines, sie dann auf der Flucht durch die Wüste nicht saft- und kraftlos werden zu lassen, ein anderes. Auch hier sind Hintergedanken nicht jugendfrei. Vergessen sei nämlich nicht, dass es um Liebe ging. Linetta (Fiorella Hincapié), Nicoletta (Martha Sotiriou) und Ninetta (Şen Acar alternierend mit Mengqi Zhang) löschten dem Prinzen den Durst danach, obwohl sie statt direkt aus der Frucht geschält zu werden, schon recht ausgepresst und in wenig attraktiven Kostümen aus riesigen Limonadenflaschen stiegen. Auch hier konnte der Szeneneinfall den Schwachpunkt des Librettos nicht bessern, den, dass kurz vor dem großen Finale noch zwei Schönheiten in der Wüste verschmachten. Immerhin durfte eine überleben und mit dem Prinzen in die Badewanne steigen.

Bei allem hatte die Regie den Kindern viel zu tun gegeben. Sie verfolgten sitzend oder in einem Buch lesend den Fortgang der Handlung, wirbelten vieles durcheinander, halfen beim Putzen, schoben Kulissen auf und ab und anderes Hilfsgerät wie die königliche Sitzschalenreihe. Sie war Thronsessel und Kabinett zugleich. Es sei gar nicht erst der Versuch unternommen, die vielseitigen Handlungsansätze oder die Kieler Varianten zu erklären, die natürlich per Handy arrangiert und mit Magie hintertrieben wurden. Nur das sei noch gesagt, dass es, dramatischer Logik folgend, zwei Lager gab. Eines wollte dem Prinzen helfen, eines seiner Cousine, der Prinzessin Clarice, die „mit Kugel oder Rattengift“ nach dem Thron gierte. Fesch wirkte Cristina Melis in dieser Rolle im engen Kostüm und mit Peitsche und mit einem entsprechend „domina/nten“ Mezzo. Dass dies die Accessoires einer Etablissements-Chefin sind, werden die Eltern ihren Kindern nicht verraten haben, auch nicht den Hintersinn ihrer schrägen Beziehung zu dem stimmgewaltigen Leander (Thomas Hall), dem intriganten  Premierminister. Ein Zuviel an Aufklärung wäre zu viel. So bleibt der eigentliche Spaß einmal wieder bei den Erwachsenen. Ebenso wenig wird den jungen Besuchern die Rolle der Smeraldina (Ks. Heike Wittlieb) einleuchten, die hier als Helferin der Fata Morgana im Kostüm einer Krankenschwester zu agieren hatte.

Genossen haben die jungen Besucher sicher den optisch, auch akustisch spektakulären Kampf zwischen dem Zauberer Celio, dem Beschützer des Königs (Matthieu Abelli), und der Zauberin Fata Morgana (grandios Vera Egorova). Sie schien mit ihrem riesigen Antilopen-Gehörn und ihrem roten Farbenglanz frisch aus dem „König der Löwen“ importiert, während er in seinem blauen und steifen Outfit mächtig Wind aufwirbelte.

Spielfreude

Es gab viel zu sehen, auch vordergründigen Klamauk wie um die Köchin (mit profundem Bass Sergey Stepanyan) oder das schwebende Teufelchen Farfarello (Samuel Chan). Dennoch: Die Spielfreude der Kinder verband sich sicht- und hörbar mit der der erwachsenen Akteure. Und das Publikum? Es war sehr zufrieden und applaudierte lange.

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