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Andris Nelsons. Foto: Marco Borggreve, Musikfestspiele
Andris Nelsons: Chemie zwischen Leipzig und mir stimmt. Foto: Marco Borggreve
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«Musikalische Brücke»: Orchester in Leipzig und Boston kooperieren

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Boston/Leipzig - Seit 2014 ist Andris Nelsons Chefdirigent in Boston - und ab der Saison 2017/2018 auch in Leipzig. Das will der lettische Star-Dirigent nun als Chance nutzen, um beide Orchester so eng zusammenzubringen wie noch nie - gerade auch in Zeiten von Trump.

Schon der allererste Chefdirigent des Bostoner Symphonieorchesters hatte Verbindungen nach Leipzig. George Henschel (1850-1934) studierte am Konservatorium in Leipzig, bevor er 1881 das gerade neugegründete Orchester in der US-Ostküstenmetropole übernahm. «Es gibt so viele historische Verbindungen zwischen den Orchestern - und wir entdecken ständig mehr», sagt Andris Nelsons. Seit 2014 ist der lettische Star-Dirigent musikalischer Leiter des Boston Symphony Orchestra, ab der Saison 2017/2018 auch Gewandhauskapellmeister in Leipzig - und Nelsons will die beiden Orchester enger zusammenführen als je zuvor.

«Als wir angekündigt haben, dass Andris neuer Gewandhauskapellmeister wird, haben wir sofort begonnen, mit dem Team aus Boston darüber zu sprechen, was wir machen können und werden», sagt Gewandhausdirektor Andreas Schulz. Herausgekommen ist eine umfangreiche Kooperation auf vielen Ebenen: Unter anderem gemeinsam in Auftrag gegebene Neukompositionen, Austausch von Musikern, Gastspiele und «Mini-Festivals» mit Musik, Vorträgen, Filmen und Diskussionsrunden in beiden Städten - eine «Boston-Woche» in Leipzig und eine «Leipzig-Woche» in Boston.

«Es gibt in der Welt der Orchester bislang keine solche Zusammenarbeit mit so vielen künstlerischen Elementen, wie die, die wir jetzt kreiert haben und die wir in den kommenden Jahren mit Leben füllen wollen», sagt Schulz. «Das ist etwas ganz besonderes und wir denken nicht nur an eine Saison, wir denken langfristig für die kommenden fünf Jahre, wir wollen etwas ganz Neues schaffen.»

Die beiden Orchester kennen sich bereits. Nach einem Gastspiel der Musiker aus Boston in Leipzig im vergangenen Mai hätten die Kollegen aus Deutschland an einem freien Tag Touren zu Leipziger Sehenswürdigkeiten für sie organisiert, erzählt Schulz. «Es war eine wunderbare Stimmung, ein sehr offenes Lernen voneinander.» Der intensive Austausch mit Boston, bei dem die Musiker teilweise mehrere Monate im anderen Orchester verbringen sollen, werde für alle Seiten lehrreich werden. «Es wird eine komplett neue Erfahrung, vielleicht sogar ein positiver Schock, denn das US-System ist schon sehr anders als das europäische.»

Zwischen beiden Orchestern gebe es aber auch viele Ähnlichkeiten, sagt der Manager des Boston Symphony Orchestra, Mark Volpe. «Wenn Andris in Boston den Solo-Musiker vorstellt, drehen die Zuschauer vor Begeisterung fast durch. Und wenn man durch Leipzig läuft, merkt man, dass auch dort das Orchester eine enorme Bedeutung hat.» Die Bostoner Musiker steckten bereits tief in der Planung für den Austausch, sagt Volpe. «Wir sind alle sehr gespannt und begeistert zu sehen, was daraus wird - besonders in einer Zeit wie der jetzigen, wo es scheint, dass die Menschen eher neue Mauern aufbauen, als sich zusammenzuschließen.»

Gerade angesichts des umstrittenen neuen US-Präsidenten Donald Trump und des daraufhin wachsenden Anti-Amerikanismus in Deutschland, sei die Zusammenarbeit der beiden Orchester ein starkes Zeichen, sagt auch der Musikwissenschaftler Christoph Wolff. «Ein Dirigent, der weder Deutsch noch Amerikanisch, sondern unter dem Sowjetsystem aufgewachsen ist, bringt jetzt ein deutschen und ein amerikanisches Orchester zusammen - das ist ein Zeichen.»

Die Musik habe die Macht, Menschen zusammenzubringen, sagt auch Dirigent Nelsons - aber natürlich sei die Kooperation vor der US-Präsidentschaftswahl und unabhängig davon eingegangen worden. «Wir werden eine musikalische Brücke bauen», verspricht Gewandhausdirektor Schulz. «Die Zusammenarbeit ist vor Trump entstanden - und sie wird ihn wahrscheinlich überdauern.»

 

Interview mit Andris Nelsons:

Star-Dirigent Nelsons: Chemie zwischen Leipzig und mir stimmt

Interview: Christina Horsten, dpa

Frage: Woher kam die Idee der Kooperation zwischen den beiden Orchestern und was wollen Sie damit erreichen?

Antwort: Für mich ist die Qualität der Musik immer genauso wichtig wie die Chemie zwischen den Menschen im Orchester und der Aussicht, dass man gemeinsam arbeiten und wachsen kann. Ohne diese Chemie geht gar nichts. In Boston ist das fantastisch und dasselbe Gefühl hatte ich, als ich das erste Mal als Gastdirigent nach Leipzig kam. Und dann kam dieses unglaubliche Angebot, Gewandhauskapellmeister zu werden. Das Team und ich haben dann sofort über die Idee einer Zusammenarbeit mit Boston gesprochen, weil es auch so viele historische Verbindungen zwischen den Orchestern gibt - und wir entdecken ständig mehr. Das entstand ganz organisch und beide Teams sind sehr enthusiastisch und können es gar nicht mehr abwarten, mit der Kooperation anzufangen. Wir wollen voneinander lernen und die verschiedenen Ideen und Kulturen erkunden, auch gemeinsam mit dem Publikum.

Frage: Wie unterscheidet sich das Publikum in Boston und Leipzig?

Antwort: Musik ist ja eine globale Sprache und geht über Nationalitäten hinaus, das hat etwas sehr verbindendes, ob in Boston, Leipzig oder sonstwo. Boston ist eines der kulturellen Zentren der USA, das Publikum ist gebildet und kultiviert, manche Zuschauer kommen seit Jahrzehnten regelmäßig. Wir haben eine starke Bindung. Und Leipzig ist eines der kulturellen Zentren Europas. In beiden Städten sind die Menschen sehr stolz auf ihre Weltklasse-Orchester, da sind sie sich sehr ähnlich. In anderen Städten, wie etwa New York oder Berlin, ist das anders.

Frage: Wie sehen Sie Ihre Rolle in diesen politisch turbulenten Zeiten?

Antwort: Musik hat die Macht und die Energie, Menschen zusammenzubringen, gerade auch in Zeiten wie diesen, wo neue Mauern gebaut werden sollen. Wir haben die Kooperation zwischen Boston und Leipzig natürlich vor der US-Wahl und unabhängig davon auf den Weg gebracht. Aber sie soll auch zeigen, wie man gleichzeitig stolz auf ein eigenes Orchester und seine eigene Kultur sein und sich für die anderen interessieren kann.

Frage: Was ist Ihre Vision für Leipzig?

Antwort: Eine Kombination aus vielem. Es ist ein Orchester mit so einer großartigen Tradition, es ist für mich eine große Aufgabe und Ehre, diese Tradition wertzuschätzen und fortzuführen - und sie vielleicht auch noch zu noch mehr und anderen Zuschauern zu bringen. Da sprechen wir schon drüber. Ich möchte das beste von mir nach Leipzig bringen, wunderbare Stücke aus der Vergangenheit spielen, aber gleichzeitig auch innovative Momente einbauen. Das Orchester hat ja einen Ruf weltweit, wir werden es auf Tourneen präsentieren und CD-Aufnahmen machen. Aber schon jetzt, wann immer ich in Leipzig zum Beispiel in einen Supermarkt gehe, werde ich erkannt. Letztens in einer Apotheke hat mich die Frau hinter dem Tresen so merkwürdig angeschaut und ich dachte schon, es stimmt irgendwas nicht, und dann hat sie gesagt: «Ich komme zu Ihrem Konzert.»

Frage: Boston, Leipzig, Ihre Heimatstadt Riga, Ihre Familie - wie wollen Sie das alles logistisch organisieren?

Antwort: Jeder hat seine Prioritäten - und seine Grenzen. Meine Priorität ist natürlich meine Familie, aber jetzt wo ich eine amerikanische und eine europäische Basis haben werde, wird das auch meiner Familie helfen. Die Orchester in Leipzig und Boston sind wie meine musikalische Familie. Ich werde weniger als Gastdirigent tätig sein und das wird alles planbarer machen. Meine Frau ist als Sopranistin ja berühmter als ich, ich bin so stolz auf sie, und meine Tochter ist noch viel berühmter. Nachher sehe ich sie. Sie ist fünf und liebt gerade alles, was glitzert und glänzt, also werden wir ihr so etwas kaufen und dann spazierengehen und spielen.

ZUR PERSON: Der 1978 in Riga geborene Andris Nelsons gilt als einer der renommiertesten Dirigenten der Welt. Er studierte zunächst Trompete und wurde 2003 Chefdirigent der Lettischen Nationaloper in Riga. Danach übernahm er Orchester in Herford und Birmingham, seit 2014 leitet er das Boston Symphony Orchestra und das Lucerne Festival Orchestra. 2010 gab er sein Debüt bei den Bayreuther Festspielen, im vergangenen Jahr ließ er seinen Vertrag jedoch überraschend auflösen. Nelsons ist mit der lettischen Sopranistin Kristine Opolais verheiratet, das Paar hat eine Tochter.