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Der Mensch hinter der Stimme

Untertitel
Renée Flemings Autobiografie enthält mehr als pure Lebens-Fakten
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Renée Fleming: Die Biografie meiner Stimme, Henschel Verlag, Berlin 2005, 272 S., € 22,90, ISBN 3-89487-515-1

Was tun? Jazz oder Oper? Auf einmal öffneten sich zwei Türen, durch die Renée Fleming hätte gehen können. Damals, zum Ende ihres Studiums. Der Jazz lockte sie. Er bot die Chance zum Experimentieren. Zur Improvisation. Zum Sich-Verlieren in abstruse Tonhöhen. „Tief im Innern wusste ich, dass ich zu jung und zu ängstlich war, um nach New York zu gehen, was für eine Karriere im Jazz nötig gewesen wäre. […] Jazz ist die Musik des freien Willens, und ich zog es immer noch vor, mich einzufügen und unterzuordnen.“ Also blieb Fleming der klassischen Repertoire-Schiene treu.

Autobiografien von Musikern gibt es viele. Vor allem Sänger haben ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis. Doch was haben Sie zu sagen? „Meist fand ich nichts weiter als unterhaltsame Anekdoten aus dem Leben von Prominenten“ – so erinnert sich Renée Fleming an ihre eigene Jugend- und Studienzeit, als sie in den Büchern der damaligen Bühnenstars nach Hilfestellungen und Tipps suchte. Doch das Promi-Geplausche war ihr zu wenig. Deswegen hatte sie sich damals schon vorgenommen, ihre eigene Autobiografie nicht allein mit Jahreszahlen, Fakten und Gerüchten zu füttern, sondern nicht zuletzt mit praktischen Hinweisen an die junge Generation. „The Inner Voice. The Making of a Singer“ – so lautete die im vergangenen Jahr erschienene englischsprachige Originalausgabe, die Isabell Lorenz nun ins Deutsche übertragen hat.

Flemings Buch will nicht das Rad der Gesangspädagogik neu erfinden. Sie will es auch nicht in die Gegenrichtung drehen. Sie möchte, ohne mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen, ihre Erfahrungen mitteilen; berichten, mit welchen Entscheidungen sie gut in ihrer Karriere gefahren ist und mit welchen nicht. „Will ich meine Stimme schützen, heißt das nicht, dass ich mir anspruchslose Rollen aussuche, sondern Rollen, die stimmlich genau auf mich zugeschnitten sind. Oft ist das, was für mich richtig ist, nahezu unmöglich für jemand anderen, und umgekehrt genauso.“ Das klingt zunächst einmal banal. Doch schaut man sich im weiten Sängerrund um, wie viele – vor allem junge – Kandidaten am Anfang ihrer Laufbahn singen, was die Stimmbänder hergeben und wie leicht sie sich mit ihnen unzuträglichen Rollen knebeln lassen, dann gewinnen Flemings dezente Mahnungen durchaus an Gewicht. Am Beispiel der Strauss’schen „Daphne“ wird sie konkret: „Dies ist ein absoluter Schlüsselaspekt bei der Entscheidung, ob eine Rolle geeignet ist: ein angemessener Tonumfang, und nicht die Frage, ob die einzelnen Töne zu hoch oder zu niedrig sind.“ Renée Fleming betont, dass sie gerade in jungen Jahren die hochliegenden Partien nicht angenommen habe, obwohl „die Stimme mit zunehmendem Alter dazu neigt, tiefer und dunkler zu werden.“ Im Gegenteil: „Denken Sie nur an den Stimmteppich, in dem die höheren Farben in das Tonmaterial eingewebt und die tieferen Farben wieder aufgelöst werden, solange der höhere Stimmumfang beibehalten wird.“ Fazit: Schaut aufs Ganze, auf die Entwicklung des Körpers, auf die Langfristigkeit der stimmlichen Potenz.

Natürlich kommt auch Fleming nicht umhin, das Eine oder Andere aus dem Nähkästchen preiszugeben. Auch ihre kleinen Exkurse, etwa über Diäten oder die „Was-ziehe-ich-heute-Abend-an“-Frage zeigen, dass wir es nicht mit einem Ratgeber im klassischen Sinne zu tun haben. In ihr Privatleben gewährt sie so weit Einblicke, als sich daraus allgemeine Schlüsse für jemanden ableiten lassen, der Kinder und Karriere miteinander in Einklang zu bringen versucht. Auch ist sie sehr offen in ihrer Skepsis, was den Klassik-Markt betrifft. Sie zweifelt den geistigen Nährwert der Trend gewordenen Crossover-Projekte offen an, sie versucht jene Agenten und Manager zur Besinnung zu mahnen, die meinen, Klassik und Kassemachen müssten unweigerlich identisch sein.

Die Autobiografie hebt sich erfreulich klar von vergleichbar angelegten Büchern ab. Sie öffnet nicht die Tür zur Klatsch- und Tratschküche, sondern zum Umgang mit der Stimme und zu dem Menschen hinter dieser Stimme. Daraus kann jeder Leser seinen Gewinn ziehen, egal ob Sänger oder nicht.

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