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Pierre Boulez dirigiert das Orchester der Lucerne Festival Academy mit Olivia Stahn als Solistin. Foto: LFA/P. Ketterer
Pierre Boulez dirigiert das Orchester der Lucerne Festival Academy mit Olivia Stahn als Solistin. Foto: LFA/P. Ketterer
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„Die Leute haben falsch gehört“

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Probenarbeit und Konzerte: Ein Besuch bei Pierre Boulez und der Lucerne Festival Academy
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Sieben Jahre ist das Projekt Lucerne Festival Academy in diesem Sommer geworden. Mehrere hundert Nachwuchsmusiker aus der ganzen Welt sind in dieser Zeit zu Pierre Boulez und seinen Mitarbeitern nach Luzern gekommen, um dort ihr Wissen über die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu vertiefen. Indem sie dort ihrer Passion fürs Neue frönen, werden sie zu den Künstlern gemacht, die der Gegenwartsmusik eine Zukunft geben. Pierre Boulez spricht von vier Kulturen, die an der Academy gelehrt werden und von denen eine ohne die andere nichts ist: Es sind die Kultur des Dirigierens, die Kultur des Orchesterspiels, die Kultur der Meisterklassen mit ihrer Literatur für kleine Ensembles und nicht zuletzt die Kultur des Komponierens. Ute Büchter-Römer besuchte diesen Sommer die Academy für ein paar Tage und protokollierte für die neue musikzeitung die enge Verzahnung von Lehre, exzellenter Aufführung und Einbettung in das große Festival.

Dem Motto „Eros“ der diesjährigen Luzerner Festspiele setzt Schönbergs „Pierrot lunaire“ eine schattenhafte Komponente: Pierre Boulez interpretierte dieses frühe Werk Arnold Schönbergs mit Musikern des Lucerne Festival Academy  Orchestra und der Sopranistin Olivia Stahn. Der Sängerin gelang, wenn auch mit kleiner instrumentaler Stimme ohne tiefere Dramatik, eine facettenreiche Darstellung des Textes. Boulez dirigierte verhalten, präzise. Seine Vorstellungen hatte er vorher den Musikern vertraut gemacht, jetzt oblag das Gelingen jedem einzelnen Musiker und seinem Gestaltungswillen. Und diese jungen Musikerinnen und Musiker waren jeder einzeln durchdrungen von einer gemeinsamen Intensität. Gestaltete sich die Aufführung von Schönbergs „Pierrot“ als Höhepunkt des Abends, so bildeten die weiteren Werke weniger spannungsreiche Bilder. Igor Strawinskys selten gespielte „Symphonies d’instruments à vent“ ließ rhythmische Provokationen aus seiner Zeit deutlich hören, jedoch ging die Interpretation hier nicht über ein präzise einstudiertes Spiel hinaus. Fast alle Teilnehmer fanden sich zur Interpretation von Strawinskys „Le Chant du Rossignol“ zusammen, der Ballettkomposition, die der Komponist aus zwei liegengebliebenen Opernakten transferierte. Insgesamt ging aber auch hier die Interpretation nicht über eine präzise Darbietung hinaus. Fünf Proben von jeweils drei Stunden mögen die Ohren und die Präzision geschärft haben, die Arbeit hat die Freude an der Musik des 20. Jahrhunderts geweckt, gefördert. Die junge Violinstudentin Cordula Kurthen – befragt als eine Stimme aus der Academy – war glücklich, die gewonnenen Orchestererfahrungen mit in ihr weiteres Studium nehmen zu können, und besonders, die Arbeitsweise von Pierre Boulez erlebt zu haben. In den Mittelpunkt des Abends hatte Boulez die Schweizer Erstaufführung der Komposition „What Are Years“ des 101 Jahre alten Elliott Carter gesetzt. Seine Vertonung von fünf Gedichten von Marianne Moore wurde von Olivia Stahn und dem Kammermusikensemble der Academy realisiert.

Boulez hatte für dieses Konzert „seine“ Wegbereiter des Neuen gewählt. Boulez’ „Credo“ wurde in der Einführung als wesentlich der Moderne verpflichtet bezeichnet, der Postmoderne ließe er nur wenig Raum. Dennoch habe er den Studenten im Rahmen der Meisterkurse auch Gelegenheit gegeben, eigene Vorschläge zu realisieren, darunter auch das Stück „Nagoya“ für Marimbas von Steve Reich, das sicherlich nicht dem von Boulez vertretenen ästhetischen Postulat der Moderne entspreche. Außerdem gebe es für Boulez nur „gute“ oder „schlechte“ Musik: Was darunter zu verstehen sei, zeigten die verschiedenen Programme.

Entgrenzung zum Neuen ist ein zentraler Gedanke zeitgenössischen Komponierens. Bei Strawinsky und Schönberg finden sich jene Entgrenzungsanfänge, die die zeitgenössische Entwicklung bestimmen sollten. Man könnte auch schon die 4. Symphonie von Ludwig van Beethoven dazu zählen, so furios schilderten Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker das Werk in Luzern. Entgrenzung durch die Dominanz des Rhythmus’ bei Strawinsky, Entgrenzung durch die Aufgabe von Harmonik und Tonalität bei Schönberg, Erweiterung und Entgrenzung der Form und der Klangvielfalt, dies zeigen die Kompositionen von Pierre Boulez. Das Ziel der Orchestra Academy ist es, den jungen Musikern den Weg zu diesen musikalischen Entgrenzungen zu öffnen, sie zu schulen und ihnen durch die Entwicklung des genauen Zuhörens eine besondere Spielpraxis zu vermitteln. Cordula Kurthen sah sich glücklich, in der internationalen Gemeinschaft so viel Neues erlebt zu haben. Daneben bestand für die jungen Künstler die Möglichkeit, die renommiertesten Orchester der Welt zu hören.

Faszinierend die Interpretation der 4. Symphonie von Beethoven und der 1. Symphonie von Gustav Mahler durch die Berliner Philharmoniker. Bei Gustav Mahlers 1. Symphonie kündigt sich die Entgrenzung durch Aufhebung vertrauter Klangkonstruktionen an. Und Mahler waren demnach einige der Konzerte der großen Orchester gewidmet, ebenfalls Strawinsky, dessen „Feuervogel“ vom Koninklijk Concertgebouworkest unter Mariss Jansons  intensiv und faszinierend realisiert wurde. Ein „Mehr“ an musikalischer Erfahrung kann ein Festival jungen Musikstudenten und fast schon Profis, und das neben der eigenen täglichen Probenarbeit, kaum bieten.

„Die Botschaften sind oft geheim. Die Musik hat diesen Vorteil: keine Worte, die Botschaften sind im Wesentlichen persönlich, entziffert durch jeden je nach der Gunst des Augenblicks“ – diesen Gedanken stellt Boulez seiner Komposition „Messagesquisses“ voraus. Was ist die Botschaft? Gibt es eine Idee dessen oder mehrere? Mstislaw Rostropowitsch hatte zum 70. Geburtstag von Paul Sacher, einem wesentlichen Mäzen Neuer Musik, eine Komposition bei Boulez in Auftrag gegeben, die den Namen des Mäzens in Notennamen verwandelte. So kam unter Verwendung der deutsch-französischen Tonbuchstaben es–a–c–h–e–d ein Tonmaterial zustande, das die Basis der Komposition für Solo-Cello und sechs weitere Cellisten bildete. Die geforderte Virtuosität ist paganinihaft ungemein schwierig zu bewältigen. Dazu Boulez: „Bei so viel Geschwindigkeit muss doch was passieren, so wird das Gefühl der Gefahr vermittelt.“ Die entfesselte Schnelligkeit bewältigte der  junge Cellist der Academy, Jeremiah Campbell, mit Bravour, die ihn begleitenden Cellisten spielten nicht minder technisch perfekt, ohne erkennbare Anstrengung meisterten sie das schwierige Werk. Die Übertragung für Solo-Bratsche und sechs Bratschen erfuhren durch die Interpretation von Alexander Michael Petersen und die sechs Musiker eine ebenso professionelle Wiedergabe. Den Solopart von „Mémoriale“ für Flöte und acht Instrumente spielte die in Taipeh geborene Flötistin Szuyu Chen meisterhaft. Die Komposition hatte Boulez im Gedanken an den früh verstorbenen Flötisten des Ensembles Intercontemporain, Lawrence Beauregard, geschrieben, ein Werk, das bestimmt wird von Erinnerungsmotiven in allen Instrumenten, wobei aber nicht erahnbar ist, wann und in welcher Gestalt sie wieder auftauchen. Ganz in der Stille endet das Stück. Die früheste Komposition Boulez’ dieses Abends waren die „Structures pour deux pianos“ aus den Jahren 1956–61. Die Pianisten Peter John De Jager (Australien) und Flavia Casari (Italien) beherrschten ihren jeweiligen Part souverän. Boulez erklärte, er habe ein Duo, einen Dialog schreiben wollen, nicht immer einen genau festgelegten, ein Dialog sei ja auch etwas Unvoraussehbares. Und so spielt der erste Pianist  seinen Part, wird vom zweiten unterbrochen, dieser fügt ein, wie es ihm passt, hört auf, der andere muss dann sofort an der Stelle weiterspielen, wo er aufgehört hatte. Ein heftiges Chaos entsteht. Nach der damaligen Erstaufführung habe es Hasstiraden gehagelt, führte der Kommentator Roland Wächter aus, ob es ihn nicht verletzt habe, war die Frage an Boulez. Dieser erwiderte gelassen ironisch: „Warum? Keineswegs hat mich dies verletzt. Die Leute haben falsch gehört!“

Die beiden Kompositionen „Derive 1“ und „Derive 2“ für die unterschiedlichen Kammermusikbesetzungen beziehen sich auf „liegengebliebene Ideen“, so Boulez, sind Transformationen schon existierenden Materials, Verwandlungen: „Ideen entstehen, eine Idee geht zu einer anderen Idee, das Material evoziert einen anderen Weg als im Ideengehalt des Anfangs erkennbar.“  Wieder gelang den Musikern unter der Leitung des jungen Dirigenten Jean Deroyer eine intensive Realisation.

In der einführenden Probe der 6. Symphonie von Gustav Mahler durch das Academy Orchestra hatte das Publikum Gelegenheit, die Besonderheiten dieser Komposition kennenzulernen, um sie dann in der Aufführung selbst besser erkennen und hören zu können. Mahlers 6. Symphonie entstand in seiner glücklichsten Zeit und zeigt doch seine Verzweiflung. „Es ist nicht so, dass ein Musiker leidet, wenn er traurige Stücke schreibt, oft sind leichte Stücke das Ergebnis – der Musiker, der Neue Musik schreibt leidet immer!“, so Boulez’ Kommentar auf diesen Widerspruch zwischen künstlerischem Ausdruck und Lebenssituation. In dieser Symphonie ist das Hauptmotiv ein Marschrhythmus, der sich durch alle Sätze zieht. Drei Hammerschläge signalisieren intuitiv die drei Schicksalsschläge, die Mahler treffen werden, nach der Interpretation von Alma Mahler. Ob das so sei? „Alma redete viel“, so Boulez lapidar. Das gesamte große Orchester, das sicher fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Academy umfasste, musizierte hier die demonstrativen  Ausschnitte des Werkes mit so viel Engagement, dass man mit Spannung das Abschlusskonzert erwartete.

Mit seiner mehrfach überarbeiteten Komposition „Figures–Doubles–Prismes“ eröffnete Boulez das Abschlusskonzert mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra. Es folgte die Interpretation der 6. Symphonie von Gustav Mahler, jene Symphonie, die in ihrem Ausdruck im Widerspruch zu Mahlers Lebenssituation steht, in der er sich während der Komposition befand. Boulez musizierte konzentriert und ruhig, mit wenigen Gesten mit dem Riesenorchester. Es folgte bewusst und engagiert, mit einer erstaunlichen Leistung in einzelnen Soloinstrumenten, ließ die Intensität der „Tragik“ der Symphonie erahnen. Standing Ovations für Pierre Boulez und das junge, ausgesprochen begabte Orchester.
 

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