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Helmut Lachenmann 2002 bei den Salzburger Festspielen, wo sein „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ aufgeführt wurde.
Helmut Lachenmann 2002 bei den Salzburger Festspielen, wo sein „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ aufgeführt wurde.
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Ein Komponist fällt aus der und in die Zeit

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Helmut Lachenmann wird siebzig Jahre alt und begegnet in Paris Mozart ·
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Der Komponist Helmut Lachenmann wird am 27. November 2005 siebzig Jahre alt. Die Musikwelt wird ihm an diesem Tag mit schriftlichen und verbalen Huldigungen die Reverenz erweisen. Das Musikleben feierte ihn schon zuvor mit entsprechenden Bewunderungen. Kein Festival, kein Konzerthaus, kein avanciertes Orchester präsentierte sich in diesen Wochen und Monaten ohne ein Werk von Lachenmann. Und die Anerkennung seines kompositorischen Schaffens wird auch über das Geburtsdatum hinausgehen – fast eine Sensation: In der Pariser Cité de la Musique werden Ende Januar 2006 in sechs Konzerten unterschiedlichster Ensembles Werke Helmut Lachenmanns mit Kompositionen des anderen Jubilars Wolfgang Amadeus Mozart korrespondierend konfrontiert. Was ist nur mit der Neuen Musik geschehen? Strebt sie in die Charts?

Eine unnötige Befürchtung, wenn man an Helmut Lachenmann denkt. Gleichwohl stimmt es nachdenklich, dass ausgerechnet ein Helmut Lachenmann plötzlich aus dem magischen Kreis des Introvertierten, des Schwierigen und sich gegen jede Vereinnahmung sperrenden Künstlers hinaustritt in eine Gesellschaft, die das Wort Reflexion nicht kennt. Wer die Terminliste des Komponisten im Monatsheft seines Verlages Breitkopf und Härtel liest, könnte den Eindruck gewinnen, Helmut Lachenmann wäre ein Popstar: Alicante, Berlin, Bogota, Budapest, Cambridge, Essen, Frankfurt, Göteborg, Köln, Karlsruhe, Luzern, Mailand, Oslo, Straßburg, Stuttgart, Wien – wer, so möchte man mit Schiller fragen, kennt die Völker, nennt die Namen?

Über Helmut Lachenmann und sein Schaffen wird also noch viel zu berichten sein. Die neue musikzeitung hat sich deshalb entschieden, auf den üblichen Geburtstagsartikel zu verzichten, der nur das wiederholen würde, was ohnehin schon gesagt ist. In dieser Ausgabe finden unsere Leser auf den Seiten 46/47 Berichte über Lachenmann-Aufführungen in Frankfurts Alter Oper und beim Festival in Schwaz. In der letzten nmz-Ausgabe beschrieb Max Nyffeler ausführlich Lachenmanns neueste Komposition „Concertini“. Wir werden auch über die weiteren Veranstaltungen berichten.

Was uns im Zusammenhang mit dem Geburtstag des Komponisten bewegt, ist etwas anderes. Und dieses Andere greift aus in die Situation der Neuen Musik in der Gesellschaft, im Musikleben allgemein. Helmut Lachenmann war und ist kein Komponist, der sich irgendeinem wie auch immer gearteten Trend anschließt. Seine Musik ist der unablässige Versuch, eine Musiksprache zu entwickeln, deren Ausdrucksmittel dem Empfinden und dem intellektuellen Anspruch unserer Zeit entsprechen, ohne dabei die Erfahrungen und Leistungen der Vergangenheit zu ignorieren. Wer Lachenmanns Musik kennt, weiß, wie schwierig dieses Neu-Erfinden einer zeitadäquaten Musik ist, weiß aber auch, dass Helmut Lachenmann diesem Anspruch mit kongenialen Werken geantwortet hat.

Aus dem unerwarteten Interesse, ja der Begeisterung, auf die Lachemanns Komponieren auch und vor allem bei jungen Menschen stößt, möchte man, mit aller Vorsicht, einen positiven Schluss ziehen: Es will scheinen, dass die Neue Musik, langsam aber stetig, von einer neuen Generation, zu der auch Ältere gehören dürfen, als Ausdruck nicht nur der Zeit, sondern, und das wäre entscheidend, auch der eigenen Identität akzeptiert wird. Der überwältigende Zuspruch, den die Donaueschinger Musiktage schon seit langem, aber besonders in diesem Jahr gefunden haben, mag für diese Entwicklung ein markantes Zeichen sein (siehe Seite 44). Man könnte dieses Zeichen vermehren um die Namen Witten, Schwaz, Musica Strasbourg, Wien modern, Stuttgarts „Éclat“ – um nur einige zu nennen. Vor diesem optimistisch stimmenden Hintergrund der Neuen Musik erscheint es besonders widersprüchlich, dass einige, nicht ganz unmaßgebliche, gleichwohl ignorante Institutsleiter der Neuen Musik mit fadenscheinigen Argumenten (Einschaltquoten) die Existenzberechtigung zu beschneiden versuchen. Der Fall des SWR-Vokalensembles mag als besonders aktuell für die Tendenz stehen, produktive, schöpferische Kräfte zu zerstören. Die Neue Musik braucht hochqualifizierte Interpreten. Das Wechselspiel zwischen Komponist und Interpret ist ein besonders signifikantes Charakteristikum für die Musik unserer Zeit. Niemand weiß das so gut, wie der Komponist Helmut Lachenmann.

Im Programmbuch des SWR-Vokalensembles für die neue Saison steht dazu Lesens-und Bedenkenswertes. Aber wer liest noch in den oberen Etagen?

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