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Nonnen, Gehörnter und Model-Eleganz-Stereotypen: sympathisch-synkretistische Inszenierung von Mathis Nitschkes Musiktheater „Jetzt“. Foto: Oper Montpellier
Nonnen, Gehörnter und Model-Eleganz-Stereotypen: sympathisch-synkretistische Inszenierung von Mathis Nitschkes Musiktheater „Jetzt“. Foto: Oper Montpellier
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Ein plastischer Doppelabend in Südfrankreich

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Carters „What Next?“ und Uraufführung von Mathis Nitschkes „Jetzt“ in Montpellier · Von Gerhard R. Koch
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„Und ewig lockt das Weib“ hieß 1956 ein Film mit Brigitte Bardot – schon mit Titel und Star ein eindeutiger Hinweis auf die unwiderstehliche Anziehungskraft genuin weiblicher Sinnlichkeit. Doch die Anspielung bleibt nicht nur auf den Sex-Appeal der Schmollmund-Ikone beschränkt, sondern lässt sich auch auf eine ganz andere, kaum minder unstillbare Begierde übertragen: das Verlangen wie Widerstreben nicht weniger Komponisten gegenüber der Erotik der Diva Oper.

So wie die Zweihundert-Jahr-Jubilare Wagner und Verdi für deren Allmacht stehen, so haben Domenico Scarlatti, Chopin, Brahms, Bruckner, Skrjabin, Webern, Ives, Va­rèse und Lutoslawski deren verführerischer Anziehung widerstanden. Die schier yin- und yanghafte Parität zwischen „absoluter“ instrumentaler und dramatischer Musik ist am ehesten Mozart gelungen, bei den Komponisten der Gegenwart Henze. Bei vielen anderen spürt man die Ambivalenz, die Zerrissenheit zwischen autonomer Struktur und affektivem Theater. Zumindest drei Komponisten ist, wenn auch spät, der Sprung über den eigenen Schatten gelungen: Messiaen mit seinem „Franziskus“, Cage mit den „Europeras“ und Lachenmann mit dem „Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Als „Opern“ im herkömmlichen Sinn wird man alle drei Werke schwerlich bezeichnen wollen. Boulez hat sich denn auch über Jahrzehnte mit einem Musiktheaterprojekt herumgeschlagen. Erst starben ihm die als Text-Koautoren auserkorenen Dramatiker Jean Genet, dann Heiner Müller – und seine Idee, Kafkas Erzählung „Der Bau“ zur szenischen Komposition werden zu lassen, dürfte unausgeführte, für ihn letztlich unausführbare Utopie bleiben.

Auch der einzige amerikanische Komponist, dem sich Boulez ästhetisch nahe fühlt, Elliott Carter, hatte zur Bühne kein Verhältnis – im Gegensatz zum immerhin Operndirigenten Boulez. Erst spät, als 90-Jähriger, hat der unlängst mit 103 Jahren gestorbene Carter das Musik-Theater für sich entdeckt, für das ihm Paul Griffith ein Libretto verfasst hat, das sich mit gutem Grund tiefsinniger Botschaft ebenso verweigert wie narrativer Linearität, das lieber aufs spielerische Mobile setzt, als auf die Illusion einer in sich konsis­tenten Handlung. So fern der Strukturalist Carter der „Unbestimmtheits“-­Ästhetik von John Cage auch immer gewesen ist, so aleatorisch puzzlehaft ist auch hier die Situation: Was geschieht bei, oder besser, nach einem Verkehrsunfall, den die sechs in ihn Involvierten unbeschadet überleben? Sie sinnieren über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kausalität oder Chaos, Beziehungen aller Art. Um stimmige, psychologisch plausibel sich entwickelnde Charaktere geht es nicht, eher um eine Art dramaturgischer Versuchs­anordnung in der Nachfolge von Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“. Carter hat auch an Jacques Tatis Film „Trafic“ gedacht, sicher weniger, wenn überhaupt, an Godards Verkehrsgroteske „Weekend“ mit seinem makaber kannibalistischen Finale. Griffith-Carters Einakter evoziert das „Così fan tutte“-Sextett permutiert die Rollen und Beziehungen – und belegt eher beiläufig, dass es immerhin doch möglich ist, mit einem in sich relativ neutralen Material eine reichhaltige kompositorische „Beziehungs-Kiste“ von erheblicher Bühnen-Plastizität und -Lebendigkeit zu gewinnen.

Dass „What Next?“, 1998 von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper uraufgeführt, so rar geblieben ist, hat nicht nur mit der erheblichen Schwierigkeit der Partitur zu tun, sondern auch mit den Vorbehalten der Theaterleute gegenüber Einakter-Abenden: Abendfüllende Einzelwerke sind kompakt-attraktiver. Außerdem: Was lässt sich mit was sinnvoll koppeln? Überdies ist die Polarität „absolute“ Musik oder Oper eine Alternative primär aus der Perspektive der „Hochkultur“. Es gibt aber auch Weichenstellungen außerhalb der nicht rein instrumentalen Autonomie. Komponisten auch eher „angewandter“ Musik mögen sich den klassischen Gattungen von Orches­ter oder Quartett verweigern, misstrauen erst recht aber der Oper mit ihrem hohen Gesang.

In diesem Dilemma befindet sich auch der Münchner Komponist Mathis Nitschke: Er hat zwar durchaus ein Faible für Hans Werner Henze, dessen ästhetische Offenheit und Vielschichtigkeit, selbst Unberechenbarkeit, doch dem exemplarisch produktiven Opernkomponisten steht er eher fern, sieht in ihm einen Künstlertypus in der Tradition des romantischen Originalgenies, der schier demiurgisch seine einsam hohen Meisterwerke schafft. Nitschke, 1973 geboren, ist ein vielseitiger Musiker, vielfältig interessiert und aktiv, hat Filmmusik für Michel Houellebecq und Theatermusik für Luk Perceval komponiert. Auch an technischen Fragen interessiert, vertritt er eine eher operationalistische Ästhetik, inklusive Elektronik, Video und Performance, setzt weniger auf die Isolation des entrückt seinem Œuvre lebenden Tonsetzers. Multipel (ko-)operierenden Komponisten wie Heiner Goebbels oder Manos Tsangaris fühlt er sich stärker verbunden. Von daher lässt sich durchaus verstehen, dass er ums Genre bislang einen deutlichen Bogen gemacht hat.

Die rührige Oper im südfranzösischen Montpellier lieferte quasi die Initialzündung, indem sie ihm den Auftrag für einen Einakter gab, der sich mit Carters „What Next?“ zum kohärenten Doppelabend fügen sollte. Ebendies ist erstaunlich gelungen. Nitschke hat sich mit dem Schweizer Literaten Jonas Lüscher und dem vielseitigen Szeniker Urs Schönebaum zusammengetan. „Jetzt“ heißt das Gemeinschaftswerk, das die hermetische Zufallskonstellation von Carters „What Next?“ aus der quasi punktuellen Momentsituation ins Menschheitsgeschichtliche weitet, die bewusst trivial alltägliche Konversationskomödie – fast im Stil der „Zeitoper“ der zwanziger und frühen dreißiger Jahre – schier metaphysisch konterkariert. Aber das Epochenpanorama „Jetzt“ und der Sketch „What Next?“ sind weniger gegensätzlich, als es zunächst scheint: Denn wenn der Gang der Welthistorie in sieben Phasen – von Homer bis heute – evoziert wird, dann geschieht dies eben nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern auch simultan: Die Jahrtausende und die Gegenwart fallen in eins; alles kann sich jederzeit und überall ereignen. Bernd Alois Zimmermann hatte, zumal für seine „Soldaten“ vom Kirchenvater Augustinus die Vorstellung von der „Kugelgestalt der Zeit“, die alles und jedes gleichzeitig geschehen lässt, übernommen. Als dramaturgisches Denkmodell schimmert dies auch in „Jetzt“ durch. Aber ganz zufällig dürfte selbst dies nicht sein: Der aktuelle Film „Cloud Atlas“ basiert ebenfalls auf einem Zeitgeschiebe, in dem dieselben Stars (Tom Hanks und Halle Berry) über Jahrhunderte hinweg analoge Rollen verkörpern.

Lüschers Text, philosophisch hochambitioniert, zahlte nicht gerade mit kleiner Münze, zielt aufs übergreifend Große und Ganze. Aber mit Sinnstiftungsbotschaften hält er sich letztlich erfreulich zurück, switcht munter zwischen den Puzzle-Polen hin und her. Die Kombination von Weltentwurf und flipperhaftem Spiel ist immerhin nicht reizlos. Und gerade weil sich Nitschkes Musik nicht auf ein einheitliches Idiom, eindeutig zu fixierende Ausdrucks-Topoi festlegt, entspricht sie eben nichtverdoppelnd dem Libretto. Da hört man anfangs geräuschhafte, schartig-scharrende, raschelnde Begleitung wie aus dem Off, dann gibt es wieder üppig retrospektive, spätromantisch tonale Sphärenklänge, schließlich mehr und mehr akkordische Wiederholungsraster, oft geradtaktig, mit viel Blech und Schlagzeug. Jazz-Beat oder Minimal Patterns zu assoziieren, läge nahe; doch handelt es sich eher um robuste Final-Ostinato-Häufungen nach dem Vorbild von „Mahagonny“ oder „Soldaten“.
Dafür, dass Nitschke nach eigenem Bekunden mit dem Operngesang zunächst wenig anzufangen wusste, schreibt er für Stimmen verblüffend süffig. Auf jeden Fall ist der zeitlich-räumlichen Disparatheit der Vorlage mit einer schillernd vielgesichtigen Partitur begegnet, und damit sich nicht doch eine vereinheitlichende Stil-Hüllkurve ergibt, setzt er zusätzlich drei elektronisch verstärkte, improvisierende Instrumentalisten ein.

Wo Handlung, Text und Musik sowohl narrative als auch kompositorische Geschlossenheit verweigern, wäre eine homogene Inszenierung wenig triftig. Entsprechend kaleidoskopisch ist sie: Da sieht man den Polarforscher Nansen als Mixtur von Astronaut und Robinson, Nonnen und Ärztescharen schichten Quader zu Mauern, was an Alan Parkers Film „The Wall“ denken lässt. Hinzu kommen schier seriell mechanisierte Musical-Gesten und Model-Eleganz-Stereotypen. Das alles ist synkretistisch buntscheckig, vermeidet allzu Eindeutiges. Sympathischer als angestrengte Sinnhuberei ist dies allemal.

Ensemble, Orchester, Chor und nicht zuletzt Technik der Oper von Montpellier leisten Vorzügliches. So dass die Frage bleibt, warum etwa kein Haus im deutschsprachigen Raum bisher auch einmal auf die Idee eines solchen Doppelabends kam.

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