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Lager, Sichtung, Reinigung. Foto: Stadt Köln
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Klang-Gedächtnis, vom Erdboden verschluckt

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Zum Verlust wertvoller Musikalien beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln · Von Rainer Nonnenmann
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26.000 Regalmeter Dokumente aus tausend Jahren in einem Nu verloren. Kaiserliche Erlasse, päpstliche Edikte, mittelalterliche Handschriften, Urkunden mit prächtigen Siegeln, Verträge und lückenlose Ratsprotokolle seit 1396 sowie zigtausende neuzeitliche Akten, Bücher, Stadtpläne, Gemälde, Zeichnungen, Fotos, architekturgeschichtliche, künstlerische, literarische und auch zahlreiche musikalische Sammlungen … Über viele Generationen von Archivaren sorgsam tradiert und durch frühzeitige Auslagerungen glücklich durch den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs gerettet, wurde all dies jetzt in Sekundenschnelle vom Erdboden verschluckt.

Der Einsturz des Historischen Archivs der alten Reichs- und Hansestadt Köln ist eine Katastrophe sondergleichen. Für die Kölner und die Geschichte ihrer Stadt sowie für die internationale Mediavistik gleicht der Verlust dieses größten kommunalen Archivs nördlich der Alpen dem Brand der antiken Bibliothek von Alexandria. In eine direkt vor dem Archiv verlaufende, zwanzig Meter tiefe Ausschachtung für eine neue U-Bahnlinie rutschten am 3. März wohl infolge unzulässig starker Grundwasser-Abpumpung unterirdisch große Mengen Erdreich. Sie zogen dem 1971 errichteten Archivgebäude förmlich den Boden unter den Fundamenten weg und ließen es wie ein Kartenhaus zur Seite in den noch offenen U-Bahn-Schacht stürzen. Zwei anliegende Wohnhäuser wurden mitgerissen und begruben zwei junge Männer unter sich. Ein drittes Gebäude musste wegen Einsturzgefahr abgerissen werden.
Wie viel vom Archivbestand möglicherweise noch aus dem Schutt gezogen werden kann, ist nicht abzusehen. Fragile Pergamente und Papiere, gegen deren Zersetzung Konservatoren Jahrzehntelang mühsam ankämpften, dürften mehrheitlich von den kollabierten Betonmassen und tonnenschweren Stahlträgern zermalmt worden sein. Auch der Todfeind aller Archivalien fordert seinen Tribut: von oben droht Wasser als Regen, von unten das trotz Abpumpvorrichtungen meterhoch stehende und ständig nachströmende Grundwasser des nah gelegenen Rheins.

Schimmelbefall. Das Ausmaß der Zerstörung lässt Schlimmstes befürchten: den Totalverlust unersetzbarer Sammlungen. Und selbst wenn neben den bisher geborgenen und in Sicherheit gebrachten Beständen – etwa 20 Prozent, darunter auch die älteste Urkunde aus dem Jahr 922 und zwei Handschriften von Albertus Magnus – weiteres Archivmaterial gerettet werden sollte, es wird auf Jahrzehnte hinaus nicht verfügbar sein, weil es unter zeitaufwändigen Verfahren tiefgefroren, getrocknet, gereinigt, restauriert, sortiert, neu katalogisiert und an einem neuen Ort zugänglich gemacht werden muss. Auslagerungen des Archivs enthalten vor allem kulturhistorisch minder wichtige Akten von Verwaltung, Baudezernat und des Oberbürgermeisters seit den 1970er-Jahren.

Köln war und ist eine Musikstadt. Von daher ist der Kompletteinsturz des städtischen Archivs auch für die deutsche und europäische Musikwelt ein Desaster. Unter den Trümmern liegen einmalige Zeugnisse vor allem der Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dokumente der Niederrheinischen Musikfeste und der später in städtische Trägerschaft übernommenen Musikinstitutionen. Allen voran die Sammlungen der 1827 begründeten Cölner Concert Gesellschaft, des seit 1850 bestehenden Kölner Konservatoriums und des ab 1857 im alten Fest- und Handelshaus „Gürzenich“ konzertierenden gleichnamigen Orchesters. Neben einzelnen Komponistensammlungen, darunter auch die zu Jacques Offenbach mit allein 2.300 Briefen sowie Konzertprogrammen und Partituren, enthielten zahlreiche Nachlässe von Familien, die im Kölner Kultur- und Musikleben bis weit ins 20. Jahrhundert wichtige mäzenatische Aufgaben wahrnahmen, bedeutende Quellen zur bürgerlichen Musikpflege des 19. Jahrhunderts. Zentrale Kollektionen bildeten auch die Hinterlassenschaften der Kölner Musikdirektoren.

Ferdinand Hiller, seit 1850 Städtischer Musikdirektor, korrespondierte von Köln aus mit nahezu allen klingenden Namen der damaligen Musikwelt, mit Robert und Clara Schumann, mit Brahms, Joseph Joachim, Verdi, Berlioz, Wagner, Liszt, Grieg, Gade, Gounod, Rubinstein, Tschaikowsky … Seine Tagebücher, Briefbände und sein schon zu Lebzeiten legendäres Album, in dem sich die in der Domstadt gastierenden Komponisten und Interpreten mit Grußworten und Notenautographen verewigten, spiegelten mit der städtischen auch die europäische Musikpflege. Von ähnlichem Rang war der Nachlass seines Nachfolgers Franz Wüllner, in dessen Bekanntenkreis von den 1880er-Jahren bis zur Jahrhundertwende nur die Namen wechselten: Humperdinck, Bruch, Reger, Strauss, Mahler, d‘Indy, Weingartner … Die Nachlässe von Hermann Abendroth, Hermann Unger und des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer – der eine Woche nach dem Einsturz glücklicherweise komplett gerettet werden konnte – dokumentierten die belebte Zwischenkriegszeit, als Köln Schauplatz von Ur- und Erstaufführungen von Pfitzner, Schönberg, Berg, Krenek, Hindemith, Strawinsky, Bartók und anderen war und sich mit der hiesigen KGNM eine der ersten lokalen Sektionen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik gründete, bevor Orchester und Oper wenig später durch die Nazis gleichgeschaltet wurden. Tausende Briefe, Handschriften, Musikdrucke, Programmhefte, Plakate, Spielpläne, Verträge, Fotos et cetera aus zweihundert Jahren – vieles davon vermutlich unwiederbringlich verloren.

Aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte das Historische Archiv den Nachlass von Günter Wand, der neben einer umfangreichen Korrespondenz – mit Solisten und Komponisten, darunter mit dem befreundeten Bernd Alois Zimmermann – auch viele Schallplatten und Dirigierpartituren mit zahllosen handschriftlichen Eintragungen des Dirigenten enthielt. Von internationaler Bedeutung war auch die Sammlung zum Atelier von Mary Bauermeister, die ihre Dachwohnung in der Kölner Lintgasse seit dem „Contre Festival“ zu den offiziellen Weltmusiktagen der IGNM 1960 zwar nur für wenige, aber dafür umso ereignisreichere Jahre zum Schauplatz von Konzerten, Lesungen, Ausstellungen und Happenings machte. Bis 1962 trafen sich hier Nam June Paik, David Tudor, John Cage, Sylvano Bussotti, Cornelius Cardew, Hans G Helms, Heinz-Klaus Metzger, Karlheinz Stockhausen und andere. Kaum ansatzweise ausgewertet war der Nachlass des deutsch-amerikanischen Elektronik-Tüftlers Ernest Berk mit hunderten Bändern und diversen elektroakustischen Apparaturen.

Was der Einsturz des Archivs für einzelne Künstler bedeuten kann, zeigt der Fall von Robert HP Platz, dessen gesamtes persönliches Archiv hier lagerte: Partiturhandschriften, Skizzenbücher, Zettelkästen, Originalbänder von Uraufführungen eigener und anderer Stücke unter seinem Dirigat. In einer E-Mail schrieb Platz: „Es ist für mich ein persönliches Desaster – nie wird jemand über meine Stücke arbeiten und dazu die Skizzenbücher, Handschriften et cetera heranziehen können. Und ich selbst werde mehrere Langzeitprojekte (works in progress) nicht weiterverfolgen können, da die kompletten kompositorischen Unterlagen wohl in dem Schuttkegel eingebacken sein dürften.“ So überlebt ein Komponist tragisch den eigenen Nachlass zu Lebzeiten. Als Glück im Unglück für die jüngere Kölner Musikgeschichte erweist sich dagegen, dass einige Sammlungen, die in den letzten Jahren bedauerlicherweise an andere Archive gingen, nun andernorts erhalten geblieben sind: die Bestände des 1980 von Robert HP Platz begründeten und bis zur Auflösung 2001 geleiteten „Ensemble Köln“ im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik sowie der Nachlass von Johannes Fritsch und seines legendären, seit 1970 bestehenden Feedback Studios im Archiv der Berliner Akademie der Künste.

Selbst in manchen scheinbar musikfernen Nachlässen ließen sich musikalische Schätze entdecken. Viele der insgesamt 8.400 personenbezogenen Bestände des Archivs waren kaum ansatzweise aufgearbeitet und katalogisiert, geschweige denn wissenschaftlich ausgewertet. So begleitete etwa der Germanist Hans Mayer die Kölner Musikgeschichte vor dem Zweiten Weltkrieg als authentischer Chronist und fand mehrere Briefe von Karlheinz Stockhausen inmitten des Lebenswerks des Kölner Architekten Erich Schneider-Wessling, der dem Komponisten von 1962 bis 1965 sein Kürtener Haus gebaut hatte. Als Orte des geduldigen Sammelns, stillen Ordnens und sorgsamen Bewahrens für künftige Generationen stehen Archive nicht im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, und behüteten sie noch so kostbare Sammlungen. Dass eine solche Stätte des Gedächtnisses wie das Kölner Archiv ausgerechnet jetzt die Aufmerksamkeit aller Nachrichtenkanäle erfährt, da sie ausgelöscht wurde, ist mehr als tragisch.

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