In der letzten Ausgabe der nmz behandelte Autor Michael Dartsch an dieser Stelle bereits Facetten wie „Introvertiert und extravertiert“, „Emotion und Extraversion“ und „Gehemmt versus spontan“. Teil I des Textes endete mit einem Verweis auf Cattell, der Musiker als gefühlsbetonte, nachgiebige und fantasierende Menschen mit Tendenz zu Tagträumen, zur Melancholie und zur Kunstliebe beschreibt.
Hier zeigt sich deutlich die häufige Diskrepanz zwischen dem Alltagsverständnis eines Begriffes und seiner psychologischen Fassung. Wenn unter Bezug auf Kemps Studie vom „Feingefühl“ der Musiker zu lesen ist (Behne, Kötter, Meißner, 1982, S. 283f.), könnte man an Stelle der oben genannten Merkmale wohl auch an das beim Musizieren so wichtige Wahrnehmen und Beachten von Nuancen, das wache und genaue Hinhören, das Erspüren von Zusammenhängen und Gefühlsqualitäten denken und entsprechende Transfereffekte vermuten.
Diese Art von „Feingefühl“ kann die Persönlichkeitspsychologie jedoch kaum erhellen. Zwar ist die bloße Reizempfindlichkeit wohl genetisch prädisponiert und nach Eysenck und Eysenck bei Introvertierten generell höher (1987, S. 254ff.; vgl. dazu auch Wendt, 1997, S. 155). Geht man nach den Ergebnissen Kemps davon aus, dass sich eher Introvertierte für das Musizieren entscheiden, so wären diese damit jedoch „von Anfang an“ – und nicht als Folge des Musizierens – besonders sensibel und ansprechbar für Sinnesreize. Weiterhin kann man das „musikalische Feingefühl“ wohl nicht vorschnell mit Empathie gleichsetzen. Diese geht nach Eysenck und Eysenck mit eher starker Emotionalität und Impulskontrolle einher (vgl. S. 16, S. 77) und wäre damit ebenfalls – gewissermaßen als Begleiterscheinung des Temperaments – ein auch genetisch beeinflusstes und relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal.
Für das „musikalische Feingefühl“ wäre hingegen die Annahme, es handele sich allgemein um eine situationsübergreifende Persönlichkeitseigenschaft, eine gewagte Spekulation. Zwar mag das Wahrnehmen „mit feinen Antennen“ bei entsprechendem (!) Musizieren für einige wirklich zu einem gewohnten Verhaltensmuster werden. Ob das Etablieren und das Transferieren dieses Musters auf andere Situationen gelingt, in denen Zuhören und Erspüren von Zusammenhängen und Qualitäten relevant sind – also zum Beispiel auf Gespräche und soziale Interaktionen – hängt aber wieder von der Einzelbiographie ab, von der Gesprächs- und Interaktionsgeschichte, auf die das Muster trifft, wenn es sich gewissermaßen anbieten möchte. Wenn Bastian vom besseren Abschneiden der Berliner Musikklassen bei Aufgaben zum Reflektieren sozialer Fragestellungen berichtet (2001, S. 56f.), so werden vielleicht Anhaltspunkte für einen solchen Transfer sichtbar, der sich allerdings im realen Leben erst zu bewähren hätte.
c) Die emotionale Befindlichkeit schließlich kann von Faktoren jeglicher Dauer beeinflusst und bestimmt sein. Sehr kurzfristige Erlebnisse – etwa die zufällige Berührung einer Brennnessel oder die Wahrnehmung eines als unangenehm empfundenen Klanges – stehen am einen Ende, eine von frühster Kindheit an gezeigte Gehemmtheit am anderen Ende. Dazwischen können ein mehr oder weniger langer Streit mit Freunden, eine Phase gehäuft zu absolvierender Klassenarbeiten, die Eingewöhnung in ein neues Umfeld, Irritationen der beginnenden Pubertät, die wachsende Begeisterung für bestimmte Musik, der man sich nun häufig aussetzt, oder auch Erfolge auf einem Musikinstrument angesiedelt sein.
Vielerlei solcher kürzer oder länger anhaltenden Erfahrungen gehen – sich überlappend und wechselweise ins Bewusstsein tretend – in die emotionale Befindlichkeit und die zeitweilige „Grundstimmung“ ein. Stimmungseintrübungen können „locker weggesteckt“ werden oder sich zum Problem auswachsen, so wie andererseits positive Emotionen schnell verfliegen oder aber zu einem tragenden Fundament – etwa einer bestimmten Einstellung, einer Partnerwahl oder einer Berufsentscheidung – werden können.
Verdichten sich nun Einflüsse auf Grund ihrer Häufigkeit oder Intensität zu stabileren sozialen oder emotionalen Tendenzen in der persönlichen Entwicklung, so mag man sie als „prägend“ ansehen. Ein Kontinuum von mehr oder weniger, kürzer oder länger prägenden Einflüssen tut sich auf, auf dem auch Musik und Musikunterricht von Fall zu Fall zu verorten wären.
Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass auch die Entwicklung der Persönlichkeit zu einem entscheidenden Teil ein Werk des Individuums ist, das seine Umwelt selbst mit auswählt und gestaltet, das das Erlebte auf ganz eigene Weise wahrnimmt und verarbeitet und in diesem Sinne ebenso seine Erfahrungen prägt, wie die Erfahrungen es selber prägen (vgl. Asendorpf, 1988, S. 203 ff., S. 233 ff.). Was von einer Person als angenehm erlebt wird, kann eine andere als langweilig, bedrohlich oder lästig empfinden. Dies gilt sicher auch für Musik. Während sie ein Mensch für sich so auswertet und einsetzt, dass er das Gefühl hat, daran zu wachsen, kann ein anderer so damit umgehen, dass er sich auf Dauer belastet fühlt oder voll unerfüllter Sehnsucht resigniert. Man denke hier zum Beispiel an Alkoholismus unter Musikern.
Das hochkomplexe Bündel wechselseitiger Einflüsse zu entwirren und einzelne Einflussfaktoren wie Musik empirisch dingfest machen zu wollen, „mutet utopisch an“ (Asendorpf, 1988, S. 118).
Hat etwa ein bestimmter Musiker Lampenfieber, weil er weiß, dass er nicht sicher spielt – oder spielt er unsicher, weil er Lampenfieber hat? Gerade im Hinblick auf die Ergebnisse, die Bastian und Kemp bei musikalisch besonders aktiven Menschen zu Tage förderten, scheint es nahe liegend, von Wechselwirkungen auszugehen, die sich zwischen dem Musizieren und etwa dem Selbstbewusstsein, dem Umgang mit Emotionen, dem Maß innerer Sammlung, der Selbstdisziplin oder der Selbstkritik entfalten und gegenseitig aufschaukeln oder überlagern können.
Im Rahmen der von Asendorpf mit knapp 50 Prozent veranschlagten Einflusssphäre können sicher auch musikbezogene Erfahrungen die Herausbildung von Persönlichkeitsunterschieden unterstützen oder bremsen, im besonderen Fall wohl auch auslösen.