Banner Full-Size

Stärke von Selbstdisziplin und Gewissenhaftigkeit

Untertitel
Zum Thema Musik und Persönlichkeit – Teil 1
Publikationsdatum
Body

Nachdem der vorangegangene Text „Musik und Transfer“ den Zusammenhängen zwischen Musik und kognitiver Leistungsfähigkeit nachgegangen ist, soll es im vorliegenden Text um Einflüsse von Musik auf die Persönlichkeit gehen. Wenn man von Musik sagen kann, sie präge die Persönlichkeit des Menschen, dann suggeriert das eine noch tiefer gehende Wirkung als das Übertragen von Schemata, wie es der Transferbegriff beinhaltet.

Obwohl die Psychologie keine verbindliche Definition von Persönlichkeit anbieten kann, trägt doch ein etablierter Zweig der Disziplin den Namen „Persönlichkeitspsychologie“. Gegenstand dieses Zweigs sind die Unterschiede zwischen Menschen – man spricht auch von „Differentieller Psychologie“ –, die sich in verschiedenen Eigenschaften manifestieren. Ist von der Persönlichkeit eines Menschen die Rede, dann assoziiert man dabei eher stabile, also lang andauernde und situationsübergreifende intellektuelle, emotionale oder soziale Eigenschaften und denkt vielleicht an charakteristische Handlungsweisen (vgl. Asendorpf, 1988, S. 25, S. 72f.; Rost, 1997). Nachdem die Intelligenz bereits als möglicherweise von Musikerziehung profitierender Bereich diskutiert worden ist und Aspekte des Sozialen nur in Form von Abneigung und Zuneigung berücksichtigt worden sind, soll hier noch einmal besonders nach sozialen und emotionalen Eigenschaften im Zusammenhang mit Musik gefragt werden. Geht man davon aus, dass Musik einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung leisten kann, so wäre dies vielleicht anhand solcher Überlegungen genauer zu spezifizieren.

Introvertiert und extravertiert

Bekannt geworden sind die Persönlichkeitsdimensionen Hans Eysencks, die vielfach auch von anderen Psychologen bestätigt wurden (vgl. Eysenck, Eysenck, 1987, S. 164): Im Fadenkreuz der Pole „introvertiert“ und „extravertiert“ (sozialer Aspekt) sowie „stabil“ und „labil“ (emotionaler Aspekt) ordnet Eysenck sowohl eine Vielzahl von Eigenschaften als auch die klassischen Temperamente an. Als stabil betrachtet Eysenck den introvertierten „Phlegmatiker“ und den extravertierten „Sanguiniker“. Im Bereich der Labilität sind der introvertierte „Melancholiker“ und der extravertierte „Choleriker“ angesiedelt (S. 54). Später schied Eysenck aggressives und impulsives Verhalten aus dem Bereich der extravertierten Labilität aus und ordnete es einer dritten Dimension zu, auf der sich hohe oder niedrige „Impulskontrolle“ abbilden lassen. Bemerkenswerter Weise hängen mit mangelnder Impulskontrolle nach diesem Ansatz sowohl Hartherzigkeit als auch Kreativität zusammen (vgl. S. 16). Wer sich zu stark nach anderen ausrichtet oder zu schnell nachgibt, kommt vielleicht seltener zum Bruch mit Konventionellem (vgl. auch Cattell, 1978, S. 87). Menschen, die ihre eigenen Impulse dagegen zu zügeln verstehen, weisen Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit und Selbstdisziplin auf (vgl. Eysenck, Eysenck, 1987, S. 130).

Bereits 1997 berichtet Bastian bezüglich seiner Berliner Studie von Tendenzen beim Ankreuzen vorgegebener Antwortalternativen zu den Eysenckschen Dimensionen, wonach er die Kinder der Musikklassen als „extravertierter“ und „sensibler“ einschätzt (S. 147; vgl. 2000, S. 468ff.). Dabei macht er die Extraversion an Unbeschwertheit und der Neigung zu Streichen und wilden Spielen fest; die emotionale Sensibilität zeigt sich für ihn als „Verletzbarkeit“ an Test-Antworten, die vom Bedrücktsein, von grundloser Abgespanntheit, von Gekränktsein und Schüchternheit handeln. Hier neigten die Musikklassen jeweils ein wenig stärker zur Zustimmung. Waren die Musikklassen schon zu Beginn der Untersuchung und noch in den ersten zwei Jahren im Durchschnitt allgemein etwas ängstlicher und labiler, so ist dieser Unterschied jedoch nach vier Jahren verschwunden (2000, S. 362f.).

Emotion und Extraversion

Zu diesen Ergebnissen ist nun erstens zu bemerken, dass Bastian bei den Werten zur Extravertiertheit eine recht starke Streuung verzeichnete (S. 476). Ein Blick in Bastians ältere Studie mit Preisträgern des Wettbewerbes „Jugend musiziert“ zeigt, dass sich unter diesen die ganze Bandbreite menschlicher Persönlichkeiten finden lässt. Gerade auch Eigenschaften der Dimensionen „Emotion“ und „Extraversion“ – etwa Sicherheit, Empfindsamkeit, Ängstlichkeit, Egoismus und Vertrauen – weisen eine starke Streuung auf (1991, S. 228). Zu bedenken ist, dass Mittelwerte und berechnete Tendenzen damit an Bedeutung, Vorhersagekraft und Erklärungswert verlieren.

Sollten die von Bastian erhobenen Tendenzen verallgemeinerbar sein, so scheinen sie sich zweitens wieder umzukehren, wenn sich Menschen besonders intensiv der Musik widmen. Schon die Wettbewerbsteilnehmer weisen keine Neigung zur Extravertiertheit mehr auf. Könnte das intensive Üben bei einigen eine Gegentendenz zur zunächst vielleicht befreienden und enthemmenden Wirkung des Musizierens nach sich ziehen, so dass die Jugendlichen ihre Unbeschwertheit und Expansivität wieder eher einbüßen? Könnte der Berufsalltag von Musikern schließlich zu vermehrter Angst und Labilität führen? Eine Untersuchung von Kemp (1981a; vgl. Behne, Kötter, Meißner, 1982, S. 282-284) mit etwa 500 Schülern aus Konservatorien, Jugendorchestern und Spezialschulen sowie 700 Musikstudierenden und 200 Berufsmusikerinnen und -musikern legt tatsächlich nahe, charakteristische Eigenschaften und Verläufe eher für die Gruppe musikalisch besonders aktiver und herausragender Personen als für durchschnittlich musikinteressierte Menschen anzunehmen. Durchgängig zeigten sich bei den Testpersonen Introvertiertheit, Intelligenz und gefühlsbetontes Verhalten vergleichsweise stark ausgeprägt. Hierin müssen jedoch keine Folgen des Musizierens erblickt werden; vielmehr könnte es sich umgekehrt um Faktoren handeln, die musikalische Erfolge begünstigen oder die Hinwendung zur Musik mitbedingen. Kemp zeigt darüber hinaus, dass Selbstdisziplin und Gewissenhaftigkeit bei den Schülern am stärksten, bei den Berufsmusikern hingegen am schwächsten ausgeprägt waren. Von allen drei Gruppen wiesen die Professionellen dagegen die stärkste Neigung zu Angstgefühlen auf. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit der Annahme, dass hier der Berufsalltag seinen Tribut fordert. Möglicherweise unterliegen solche Zusammenhänge allerdings kulturspezifischen Variationen. Im Gegensatz zu Kemps britischen Probanden erwiesen sich nämlich fortgeschrittene Musikstudierende in den USA in einer Studie von Wubbenhorst (1994) zu über 50 Prozent als eher extravertiert (vgl. auch Gembris, 1998, S. 133f.). Dass in der Diskussion sehr genau zwischen verschiedenen Arten der Beschäftigung mit Musik unterschieden werden sollte, unterstreichen noch einmal die Ergebnisse, die Kemp für Kompositionsstudenten, Komponisten und Komponistinnen verzeichnet (1981b): Für diese ergibt sich ein ganz spezifisches Bild, wobei besonders eine vergleichsweise hohe Dominanz und Unabhängigkeit auffallen.

Gehemmt versus spontan

Temperamente – und damit auch ein entsprechender Satz von Eigenschaften – sind in abgewandelter Form auch heute noch in der Psychologie relevant und vermutlich von beträchtlicher lebensgeschichtlicher Konstanz. Dies konnte Kagan mit seinen Mitarbeitern für die Dimension „gehemmt versus spontan“ zeigen: Erhoben an zunächst zweijährigen Kindern ließ sich deren „Schüchternheit“ oder „Spontaneität“ noch im Alter von acht Jahren nachweisen (vgl. Wendt, 1997, S. 318; Kagan unter Mitarbeit von Snidman, Arcus, Reznick, 1996). Snidman ersetzte das Messen der sozialen Dimension „Extravertiertheit versus Introvertiertheit“ bei Säuglingen durch das Erfassen motorischer Aktivitäten („hoch“ versus „niedrig“) und kreuzte diese Dimension mit dem Auftreten von Furchtreaktionen („hoch“ versus „niedrig“) als Indikator für emotionale Stabilität, um so wiederum vier Typen zu erhalten (S. 176). Gleichwohl betont Kagan mit Nachdruck, das so genannte Temperament stünde keineswegs von Geburt an für das ganze Leben unveränderbar fest (2000). Langfristige Konstanz mag auch von einem gleich bleibenden sozialen Umfeld, beispielsweise der Familie, der Schule oder einer Partnerschaft mitbedingt sein. Die von Kemp untersuchten „Musikprofis“ sind ein Beispiel für die Bedeutung der beruflichen Sphäre. Asendorpf veranschlagt für westliche Industrienationen den Anteil genetischer Einflüsse auf soziale und emotionale Persönlichkeitsunterschiede nach der Pubertät mit knapp 50 Prozent etwa genauso hoch wie den Einfluss persönlicher Erfahrungen (1988, S. 30, S. 267ff.). Dass die Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen eine höchst differenzierte Betrachtung verlangt, soll durch einige Überlegungen zum Sozialverhalten (a), zum Feingefühl (b) und zur emotionalen Befindlichkeit (c) noch verdeutlicht werden:

a) Im sozialen Umfeld etwa eines „Landesjugendorchesters“, aber sicher auch nicht nur dort, mag häufig ein besonderes Gemeinschaftsgefühl anzutreffen sein. Dieses mag eine wichtige „Vermittlungsgröße“ für ein herzliches, offenes, tolerantes und einfühlsames Sozialverhalten in dieser Gruppe sein. Ob die jungen Musiker diese Verhaltenstendenzen nun auch in anderen Gruppen zeigen, in die sie involviert sind, hängt wohl davon ab, wie sie diese Gruppen erleben, ob dort etwa eine Atmosphäre des Vertrauens herrscht, die derjenigen im Orchester ähnlich ist. Menschen zeigen ein gemeinschaftsorientiertes Empfinden und Verhalten – ihren Rollen und Sympathien gemäß – nicht in allen sozialen Zusammenhängen in gleichem Maße. In Frage steht hier also die „situative Stabilität“, die auch in Untersuchungen wie der von Bastian und seinen Mitarbeitern häufig ungeklärt bleibt, die aber für ein Persönlichkeitsmerkmal entscheidend ist.

b) In der oben erwähnten Untersuchung Kemps wurde von „gefühlsbetontem Verhalten“ bei Musikerinnen und Musikern berichtet. Es handelt sich dabei um die hier vorgenommene Umschreibung eines Faktors aus dem Persönlichkeitsmodell von Raymond Cattell, der im Deutschen als „Feinfühligkeit“ bezeichnet wurde. Da Cattell seine Faktoren als Bündel statistisch zusammenhängender Merkmale konzipiert, sind deren Benennungen nur mehr oder weniger deutliche Oberbegriffe. Für den Feinfühligkeits-Faktor erfand Cattell im Englischen das Wort „premsia“, das er von „protected emotional sensitivity“ ableitete. Tatsächlich verbergen sich hinter dem entsprechenden Faktor Merkmale wie Weichherzigkeit, Ängstlichkeit, Intuitivität, Ungeduld, Abhängigkeit, Anlehnungsbedürfnisse, Empfindsamkeit, Nachsichtigkeit und die Neigung zum Ausdruck eigener Gefühle (Cattell, 1973, S. 168f., 258f.; 1978, S. 92). Cattell glaubt, die entsprechende Disposition hänge auch mit einem überbehütenden Elternhaus zusammen (daher „protected“). Hinter diesen Merkmalen sieht Cattell schließlich einen übergreifenden Faktor namens „pathemia“, der bei den von Kemp (1981a) untersuchten Musikergruppen ebenfalls stärker ausgeprägt war. Danach wären Musikerinnen und Musiker gefühlsbetonte, nachgiebige und phantasierende Menschen mit Tendenzen zu Tagträumen, zur Melancholie und zur Kunstliebe (Cattell, 1973, S. 185f.).

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!