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Nach dem Sprung in die Gegenwart müsste der Sprung in die Zukunft kommen. Foto: Martin Hufner
Nach dem Sprung in die Gegenwart müsste der Sprung in die Zukunft kommen. Foto: Martin Hufner
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Mit Gegenwartsmusik die Sondersphäre verlassen

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Der Begriff „neue Musik“ ist ein Armutszeugnis · Von Claus-Steffen Mahnkopf
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Der Begriff „neue Musik“ ist veraltet. Egal, ob man ihn emphatisch groß (Neu) oder neutral klein (neu) schreibt. Er steht seit hundert Jahren für die Klassische Moderne, die Nachkriegsavantgarde, die Postmoderne, die Musik des 21. Jahrhunderts. Wie lange soll das noch gehen? Musik des 22. oder gar des 23. Jahrhunderts?

Der Begriff neue Musik sagt nichts. Denn gleich, wie man zu den Produktionen stilistisch, ideologisch oder geschmacklich steht, ein gerade komponiertes, aufgeführtes improvisiertes, installierstes „Werk“ ist immer neu, per definitionem. Der Begriff neue Musik ist irreführend, denn er unterstellt, dass etwas, was kürzlich aus der Taufe gehoben wurde, auch etwas Neues bringe. Das ist meistens nicht der Fall. Und dass dieses Neue auch die Wichtigkeit begründe. Das ist ebenfalls meistens nicht der Fall. Die Neuheit kommt sozusagen frei Haus, garantiert, ohne Anstrengung und – schlimmer noch – ohne Hinterfragung. Der Begriff neue Musik ist ein Armutszeugnis. Als vor einiger Zeit ein führendes deutsches Neue-Musik-Festival einen runden Geburtstag feierte, wurde dessen Arbeit in der Laudatio stets damit begründet, dass man Neues schaffen wolle – es gab keine weitere Bestimmung wie etwa dass die Musik dieses oder jenes Thema aufgegriffen, diese oder jene Geschichte erzählt hätte, wie es in der Literatur ganz üblich ist. Zuletzt ist der Begriff neue Musik längst gestohlen worden: Darunter versteht Spiegel-Online neuesten HipHop oder Techno, sicher aber keine Festivalmusik.

Freilich hatte der Begriff „neue Musik“, den Paul Bekker 1919 prägte, etwas Sinnvolles. Die Musik nach 1910 war, mit den emanzipierten Dissonanzen, dem Verlassen der Tonalität, so andersartig, dass man glaubte, nach Epochen wie Barock, Klassik und Romantik einen griffigen Begriff zu brauchen, um dieses Neue zu bezeichnen. Bekker dürfte weniger eine Epoche im Sinne gehabt haben, eher die Sache. Die sich aber, je älter sie wurde, verselbständigte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Philosophie der neuen Musik, Ferienkurse für neue Musik, Tage neuer Musik und so weiter. Doch der Begriff „neue Musik“ ist, genau betrachtet, genauso prätentiös, wie der parallele Begriff der „alten Musik“ beleidigend ist. (Hans Heinrich Eggebrecht vertrat einst die schrullige These, dazwischen liege die Musik selbst, also deren „Wesen“.)

Der Begriff der neuen Musik war vor hundert Jahren nötig, weil sich eine Musik auftat, die mit allem gebrochen hatte, was uns bislang lieb war, die Musik selbst wurde sozusagen neu erfunden, und deswegen ist sie an und für sich neu. Als habe man eine neue Mathematik oder eine neue Grammatik in Gang gesetzt. Dann aber hätte diese Musik „andere Musik“ heißen müssen.

Der Begriff neue Musik hatte auch und vielleicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Sinnvolles. Eine gigantische Forschung wurde begonnen, in deren Verlauf in der Tat andauernd neue Klangphänomene, allem voran durch die elektronische Musik, bekannt wurden. Das begründete einen Materialfortschritt, der bis heute anhält und durch die immer raffinierteren Soft- und Hardware-Techniken der Musiktechnologie geradezu befeuert wird. So wurde der Begriff der Neuen Musik zu etwas Selbstverständlichem, wie oben gesagt: Er bringt nichts.

Heute bezeichnet neue Musik nur noch etwas Institutionelles. Oder wird für die Außenweltkommunikation benötigt. Soll ich ahnungslosen, aber neugierigen Mitbürgern erklären, welche Musik ich komponiere, kann ich „neue Musik“ sagen, oder „was Beethoven heute machen würde“, mein Urgroßvater sei Schönberg und so weiter. Man muss betonen, dass man nicht für Geld komponiert, also für Film, Werbung oder Multimedia, keine Unterhaltung anstrebe, sondern autonomer Künstler sei, der sich selbst definiere. Somit brauchen wir einen Nachfolgebegriff. Es werden ja dessen einige gehandelt: „zeitgenössische Musik“, „zeitgemäße Musik“, „aktuelle Musik“ et cetera.

Eine Frage des Pragmatischen

Um es vorwegzunehmen: Seit zwanzig Jahren (mithin seit dem nahenden Ende des 20. Jahrhunderts) suche ich nach einem Begriff, welcher der Sache gerecht wird. Gefunden habe ich weder einen, noch habe ich einen erfinden können. Die nach-tonale Musik entwickelt sich allmählich, divergierende, ja gegeneinanderstehende Strömungen überlagern sich, wir kommen zu einer Art Sedimentation von so Unterschiedlichem, dass es den klaren Einschnitt nicht gibt, an dem wir eine neue Epoche oder eine neue Sache ausrufen könnten. Gleichwohl brauchen wir pragmatisch Bezeichnungen, zum Beispiel für die Lehrpläne; dort folgt beispielsweise auf die Musik des 20. Jahrhunderts die des 21. Jahrhunderts. Falsch macht man damit nichts.

„Zeitgenössische Musik“ ist ebenfalls nicht falsch, man spricht ja auch von zeitgenössischer Literatur, Film, Kunst, Theater und so weiter. Aber auch der Jazz, der Pop, das technoide Bumbum sind zeitgenössisch. Etwas von dem Neuen im Begriff der neuen Musik würde man schon gerne bewahrt sehen. „Zeitgenössisch“ ist mithin zu allgemein, „zeitgemäß“ etwas anmaßend, „aktuell“ erinnert an die Aktuelle Kamera der DDR, also an Journalismus. Anbiedern will sich diese Musik ja nicht.

Was neue Musik geheißen hat, ist Kunstmusik, Musik mit Kunstanspruch, Musik, die Gegenstand eines Kunstdiskurses ist, Teil des Philosophengeschäfts, der ästhetischen Debatte. Was heute klassische Musik heißt (also das Label, das allen anderen Musikformen entgegensteht), ist in Wirklichkeit Kunstmusik, nur dass die politisch korrekte öffentliche Meinung eine solche Sprache niemals akzeptieren könnte. Die (im weitesten Sinne) komponierte Musik von heute, die in der GEMA als E-Musik gehandelt wird, ist somit Kunstmusik, die aus der Gegenwart kommt. Sie müsste somit Gegenwartskunstmusik heißen. Oder abgekürzt: Gegenwartsmusik. Das ist der Begriff, der mir noch am geeignetsten erscheint.

Man stelle sich das einmal vor: Jemand sagt zum Nachbar nicht, er gehe in ein Konzert mit neuer Musik, sondern in eines mit Gegenwartsmusik. Ganz selbstbewusst, ganz selbstverständlich. Man sagt ja auch nicht, man gehe ins Kino, um „neuen Film“ zu sehen. Wie von allein wäre das Stigma des Sonderbaren, Elitären, Noch-nicht-Durchgesetzten, Rechtfertigungsbedürftigen zerstoben. Musik, von heute eben, als wäre es die alltäglichste Sache der Welt. Neue Musik wäre dann mehr oder weniger die Musik des 20. Jahrhunderts, die Gegenwartsmusik die des 21. Jahrhunderts (nach einigen Dekaden wird man zwischen Gegenwart und „unserem“ Jahrhundert unterscheiden müssen).

Als ich auf den Darmstädter Ferienkursen, in einem Forum zu „Philosophy and Art“, dafür plädierte, die engen Grenzen des Neue-Musik-Systems zu überschreiten und deswegen endlich den Begriff der neuen Musik hinter uns zu lassen, gab es die ängstlich-konservative Reaktion „Bloß nicht!“ Wir haben uns doch daran gewöhnt, er funktioniert, ja, so könnte man ergänzen, er definiert unser Gebiet. Ein anderer, bekannt für seine politische Agitation, begrüßte meinen Vorschlag ausdrücklich, er käme aus der Welt, nicht aus der Neue-Musik-Welt; „neue Musik“ schränke ein, verstelle den Blick auf das und die Weite.

Während im März diese Zeitung meinen Essay zu einem „Institut für Gegenwartsmusik“ veröffentlichte, beschloss das Rektorat der Leipziger Hochschule für Musik und Theater, das zu gründen, was man landauf, landab ein Institut für neue Musik nennt. Es verzichtete aber bewusst, ja programmatisch auf die Bezeichnung „Neue Musik“, weil wir in einer anderen Zeit leben, die Sache heute anders ist, ein neues Institut einen neuen Namen braucht. Meine Nomenklatur schien den Akteuren noch die bes-te Lösung zu sein, in einer Zeit, da der rechte Begriff fehlt, noch fehlt, vielleicht lange Zeit fehlen wird. Immerhin: Etwas Ähnliches, zwischen Musik und Kunst, wird in Stuttgart aufgebaut: Es heißt sinnigerweise „Campus Gegenwart“.

Es geht mir nur um die Nomenklatur, nicht um die Proklamation dessen, was die Zukunft bringt oder – mehr noch – bringen soll. Also um die Frage, ob das, was auf die neue Musik folge, denn anders sei, eben keine neue Musik mehr. Das ist nicht meine Frage, und zwar aus systematischem Grund. Ich bin Komponist, also mitten im Geschehen. Andere müssen sich dazu äußern, ob sich im Übergang zum neuen Jahrhundert die Musik auch qualitativ verändert habe. Ich darf dennoch eine persönliche Bemerkung anfügen über die Änderungen, die sich jetzt ankündigen.

Der künftige Musikbegriff

Erstens wird die Gegenwartsmusik internationaler. Und zwar nicht nur, weil mehr Länder, mehr Kulturen daran partizipieren, sondern auch, weil eher aus den Peripherien die Begabungen kommen und nicht mehr aus den Zentren. Im Dirigieren machen es die Balten vor: der Lette Andris Nelsons, der männliche Hoffnungsträger, und die Litauerin Mirga Gražinyte-Tyla, die weibliche Hoffnungsträgerin. Zweitens scheint es, dass endlich vermehrt Frauen komponieren: In meiner Kompositionsklasse sitzen nun fast 50 Prozent Frauen (und keine kommt aus Deutschland). Wir müssen abwarten, ob damit sich die Musik selbst ändern wird. Drittens ist das Niveau der Aufführungspraxis der Gegenwartsmusik so hoch wie nie zuvor. Das könnte ein Ansporn sein für Komponistinnen und Komponisten, sich mehr anzustrengen, nachdem lange Zeit sie die Vorreiter waren. Viertens zeigt sich, 50 Jahre nach Adornos Tod, endlich eine Zahl kompetenter Musikphilosophen, die Musik in ihrer geschichtlichen Einheit betrachten, die nun einmal bis an die unmittelbare Gegenwart heranreicht.

Im Horizont dieser Entwicklungen wird sich ein künftiger qualitativer Musikbegriff abzeichnen, dabei sollte die alte „neue Musik“ den Sprung aus ihrer zwar nicht selbstgewählten, aber seit viel zu langer Zeit immer wieder affirmierten Sondersphäre wagen, will sie nicht überrollt werden – den Sprung heraus in die Gegenwart und darüber hinaus in die Zukunft.

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