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Mit Stecknadel und Heckenschere

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Der Alltag hält Einzug bei den 40. Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik
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nmz 2000/10 | Seite 46-47
49. Jahrgang | Oktober

Oper & Konzert

Mit Stecknadel und Heckenschere

Der Alltag hält Einzug bei den 40. Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik

In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren war das weltweit geschätzte Arditti-Streichquartett bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik eine Art „quartet in residence“. In jeweils mehreren Konzertblöcken wurden epochale Werke wie Pierre Boulez‘ „Livre pour Quatuor“, Luigi Nonos „Fragmente – Stille, An Diotima“ oder Helmut Lachenmanns zweites Streichquartett „Reigen seliger Geister“ exemplarisch vorgestellt. Die Liste der Ur- und deutschen Erstaufführungen von zeitgenössischer Quartettliteratur der mittleren und jungen Komponistengeneration ist noch um einiges länger. Anders als das in den achtziger Jahren ebenfalls in Darmstadt gastierende Kronos-Quartett aus Los Angeles gaben die englischen Musiker um Primarius Irvine Arditti ihre Fertigkeiten auch als Kursdozenten weiter. Ihren Darmstädter Zenit erreichte das Arditti-Streichquartett 1990 mit der Aufführung von John Cages von Stille durchdrungenem Werk „Four“ in Anwesenheit des Komponisten. „Es gibt kein Streichquartett, das den Ardittis das Wasser reichen kann!“, lobte John Cage die fabelhaften Vier.

Beim Gastkonzert des Hessischen Rundfunks in Darmstadt überzeugte das Arditti-Streichquartett erneut mit Werken von John Cage, Jakob Ullmann und Arnold Schönberg. Die Programmdramaturgie ließ aufmerken. Der Unterschied in der geforderten Intonation und Ereignisdichte hätte nicht größer sein können. Klangen Cages harmonisch ausgedünnte Chorsätze aus der frühen amerikanischen Musik in der Version für Streichquartett wie gottesehrfürchtig gespielter Lutherchoräle in weiter Wildnis, streckenweise auch wie Renaissancegamben, so erreichten die Musiker in Schönbergs klassizistisch-dodekaphonem viertem Streichquartett nach anfänglichen Umstellungsproblemen doch rasch die nötige Expression und kontrapunktische Transparenz.

Bei der Uraufführung von Jakob Ullmanns zweitem Streichquartett wurde schnell klar, warum sich das Arditti-Quartett die weniger klanglich spröde als überaus leise Komposition nach einem vertagten ersten Versuch im letzten Jahr in Frankfurt erst jetzt, nach einer ausreichenden Probenphase im Hessischen Rundfunk, zutraute. Das zwischen säuselnder, geräuschhafter Außenseite und kaum wahrnehmbaren, streckenweise dennoch sehr ausgeprägtem Akkordspiel angesiedelte Werk konkurrierte mit den Nebengeräuschen des Publikums in Darmstadts Orangerie. Als dadurch selbst erzeugter Spannungsbogen wuchs die Aufmerksamkeit im Saal, womit Ullmann die Wahrnehmung der Zuhörer aktiv verändern konnte: Während der gut fünfundzwanzig Minuten Dauer hätte man mehrmals eine Stecknadel fallen hören. Derart konzentriert spielend und hörend, konnten auch die hinter den unterschiedlichen Reibgeräuschen des Bogens verborgenen, tatsächliche Tonhöhen kurzzeitig aus den Instrumenten hervorlugen und so etwas wie Melodie andeuten. Mit Beat Furrer, Toshio Hosokawa, Isabel Mundry, Olga Neuwirth, Rebecca Saunders, Slavatore Sciarrino und Hans Zender war die Riege der Dozenten für Komposition sehr seriös, überschauber, facettenreich und auch hochkarätig besetzt. Dass die mehrmals während der Ferienkurse miteinander als Ensemble und alleine konzertierenden Instrumentaldozenten deren Werke aufführten, untermauerte das integrierende Konzept Solf Schaefers und erlaubte die Vertiefung in unterschiedliche Personalstile und deren intensive Diskussion. Da nähern sich die Kurse wieder dem frühen Ideal. Zudem wurde in den Konzerten des Ensembles Recherche aus Freiburg, dem Ensemble BIT20 aus Norwegen, dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR, dem französischen Ensemble Court-Circuit und dem Klangforum Wien das breite Vokabular der Neuen Musik zwischen Schönbergs Expressionismus und Lachenmanns Umfunktionierung der traditionellen in immer wieder neu zu erfindende Instrumente eindrucksvoll vorgeführt. Beat Furrers flüsternde „Aria“, Rebecca Saunders‘ klingender Bewusstseinsstrom „Crimson-Molly’s Song I“ und Salvator Sciarrinos Rascheln von Nadelhölzern in „Un fruscio lungo trent’anni“ (Ein dreißig Jahre langes Rauschen) stehen exemplarisch für die weiträumige Bandbreite zeitgenössischen Komponierens.

Bei den Dozentenkonzerten fielen besonders positiv auf: Reinbert Ewers (Gitarre) mit Christoph Neidhöfers spieltechnisch kaleidoskophafter, klopf- und rutschfreudiger Schau „Nach Innen“, Carin Levine (Flöte) mit der Uraufführung von Helmut Zapfs atavistischer, impulsiver, urmutterhaft gespielter Komposition „Albedo für Flöten und elektronisches Zuspielband“ und Uwe Dierksen (Posaune) mit der Uraufführung von Helmut Oehrings sehr ziehintensivem, hocherregtem Werk „Philipp“ für Posaune solo. Per Handyverbindung hörte der erkrankte Oehring mit.

Mehrere Pausen zwischen den knappen Instrumentaleinsätzen dehnte die Uraufführung der kurzen „Twelve pieces“ von James Saunders auf gut zehn Minuten Länge. Das noch wenig bekannte Ensemble Suono Mobile aus Freiburg und Karlsruhe profilierte sich mehr noch mit Mathias Spahlingers Objet trouvé-Musik „éphémère für schlagzeug, veritable instrumente und klavier“ aus dem Jahr 1977. Auf Regenrinnen, Emailschüsseln, Plastiklinealen und anderen diversen Alltagsgegenständen spielte das junge Ensemble eine punktuell swingende, nicht immer zwingende Musik. Auf welcher ideologischen Seite Spahlinger den parodistischen Ho Chi Minh-Arm mit der Heckenschere angesiedelt hat, blieb offen. Mancher Vater wünschte sie sich zur Entstehungszeit des Werks insgeheim für die damals oppositionelle Haartracht des Sprösslings. Heute trägt der Alte selber Zopf.

Drei Kompositionsprofessoren der Frankfurter Musikhochschule sorgten für eine sehr facettenreiche Auslegung des zeitgenössischen Musikbegriffs. Die uraufgeführten Werke von Gerhard Müller-Hornbach, Isabel Mundry und Rolf Riehm sind gleichermaßen subjektiv durchdrungen, zutiefst persönlich gefärbt und in ihren kontrastierenden Erscheinungen unverwechselbar. Damit wird weder eine romantische Originalästhetik wiederbelebt, noch soll ein genius loci der Neuen Musik im Rhein-Main-Gebiet beschworen werden. Letzteres widerspräche ohnehin dem für alle Himmels- und Kunstrichtungen offenen Konzept der Sommeruniversität in Darmstadts backsteinerner Georg-Büchner-Schule.

Am nächsten an die materialinnovative und ebenso politisch motivierte Auslegung des Begriffs Neue Musik, wie sie einst Adorno definierte, kam Rolf Riehms sehr konsequentes Ensemblestück „Hawking“ für acht Instrumente. Mit enervierenden Wirbeln und Einzelschlägen auf der Großen Trommel, mit weit gespreizten Registermischungen zwischen Bassklarinette, Piccoloflöte und Oboe und mit sirenenartigen Mahnrufen aus gepresstem Bogenstrich des Violoncellos setzte das hochkonzentriert spielende Ensemble Recherche Riehms vertontes Leiden der Kreatur (gemeint ist der schwerbehinderte Astrophysiker Stephen Hawking) wirkungsvoll in klingende Szene. Dass dabei der zugegebenermaßen bis an die Schmerzgrenze gehende Dynamikbereich der großen Trommel ausgeschöpft wurde, bestätigte nur Schopenhauers These vom Willen im Ding. Auf und vor dem Podium platzte nirgends ein Trommelfell. Riehm zeigte sich mit seiner urverknallten Komposition abermals als gänzlich trendunabhängiger Musikarbeiter.

Ganz genau Hinhören und Hinsehen mussten die Besucher in Darmstadts Schenk-Hallen, einer Industriebrache am Stadtrand. Unter der künstlerischen Leitung von Gerhard Müller-Hornbach und der Klanginstallateurin Christina Kubisch verwandelten sich die mehrschiffigen Hallen zu schlichten, romanisch anmutenden Sakralbauten. Von wo aus einst Präzisionswaagen in alle Welt versandt wurden, entstand in Müller-Hornbachs leiser Musik für Onnen Bocks „Woonraum“ nun ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen klingendem und greifbarem Interieur. Unmerklich, aber im Leisen umso nachhaltiger wurden wellenartige Celloklänge und nasale Obertöne von versteckten Mikrofonen in ein vielschichtig arbeitendes Computerprogramm geleitet, dessen dialogisch säuselnde Klangverarbeitung über die vorhandenen Fernsehlautsprecher und andere Schallmembranen dieses gutbürgerlichen Wohnzimmers direkt wieder abgestrahlt wurden: Eine Inselmusik, deren Wahrnehmungsintensität gerade durch dynamische Reduktion entstand.

Schraffierte Stille war die Inspirationsquelle für Isabel Mundrys „traces des moments“ für Streichtrio, Klarinette und Akkordeon. Inspirationsimpuls für den Kompositionsauftrag der Wissenschaftsstadt Darmstadt war die Begegnung mit japanischen Steingärten. Geharkte Linien in den Kieselflächen, der samten-haarige Moosbewuchs auf größeren Steinflächen und das Spiel des Windes auf dem Wasser übersetzte Mundry frei von jedem Exotismus in unabhängig musikalische Kompositionsstrukturen. Aus den botanischen Oberflächen generierte sie über einen sehr persönlichen Aneignungsprozess instrumental ineinander greifende Erregungszustände. So wurden aus zweidimensionalen Schraffierungen raumgreifende Resonanzen und klangliche Schattierungen. Mundrys Musik klang hier verhalten, aber nicht zurückhaltend. Mit Knopftremoli und atmendem Balg des Akkordeons (Teodore Anzellotti), plötzlich auffahrendem Gestus und nachfederndem Bogenspiel, vom exzellenten Ensemble Recherche besonders im zweiten der beiden Sätze betont, macht die 1963 geborene Komponistin hörbar, mit welcher kompositorischen Differenzierung heute eine Subjektivität möglich ist, die keine Privatsache bleibt.

Die Spülschüssel oder Zinkwanne ist zum festen Inventar des instrumentalen Theaters geworden. Seit Mauricio Kagels „Akustika“ für experimentelle Klangerzeuger vor dreißig Jahren fließt die alltagsgegenständliche Wassermusik zwischen ironischer Brechung und streng klanglicher Ästhetisierung durch zahlreiche Werke. Bei den diesjährigen Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik stand sie während der von Jazz-Rock-Musik durchdrungenen Ensemblekomposition „A Thought in a Mirror“ der Gruppe MAVIS nun schon zum vierten Mal auf der Bühne.

In Vinko Globokars doppelbödigem „Dialog über Erde“ stand sie für eines der vier Elemente, in Mathias Spahlingers politisch motiviertem „éphémère“ hingen die Emailschüsseln am Perkussionsgalgen zwecks Verklanglichung alltäglicher Unterjochung. In Salvatore Sciarrinos „Un fruscio lungo trent’anni“ (Ein dreißig Jahre langes Rauschen) spielte der Schlagzeuger Isao Nakamura in der Orangerie Kapitän beim Verrühren jener Fichtennadeln, die beim Rascheln der aufgebotenen Tannenzweige in die Wanne hinabgefallen waren – Badetag in Darmstadt.

Im „Mirror“-Werk war der Wanneneinsatz nur von kurzer Dauer, wirkte aber in seiner Flüchtigkeit umso intensiver und bot mithin den Schlüssel zum Verständnis der treibenden und von Gitarrist Jan Koslowski mit virtuosem Fingerspiel durchflochtenen Komposition.
Mitten in dem von Ensemble-Modern-Mitglied Uwe Dierksen zeitlich streng strukturierten Werk für zwei Blechbläser, Stimme, Gitarre, E-Bass, Schlagzeug und Keyboards füllte die farbige Sängerin Louise Mills aus London ein umgedrehtes Schlagzeugbecken mit Wasser und flößt es dem gerade Tuba spielenden Gérard Bouquet in den Schalltrichter. Mit der eher beiläufigen Aktion zwischen dem Spielen von subkulturellen „schönen Stellen“ wurde das Bild eines Brunnens evoziert, aus dem das Leben spendende Wasser, auch Metapher des Bewusstseins, von Kontinent zu Kontinent und von Kultur zu Kultur hinüberschwappte. So verwies die schauspielernde Sängerin mit ihrer archaischen Geste zwischen ihren balladesken Einsätzen auf die afrikanischen Wurzeln der westlichen Jazz-, Rock- und Popmusik im Kontext zeitgenössischen Komponierens. Die Stilmittel der legendären Jazz-Combo „Weather Report“ mit ihren einfachen Bläserharmonien über ätherisch singenden Bassläufen und der Geist der größten Als-Ob-Komponisten des Jazz und Rock, Frank Zappa, wurden in der Centralstation ohnehin ständig beschworen. Hatte man es sich als Hörer in den furiosen Soli des soundtüftelnden Gitarristen Koslowski oder im traurigen Bistrostil einer Akkordeonband gemütlich gemacht, wurde die so zustande gekommene Authentizität der musikalischen Stimmung von tiefem Posaunengeraune zerbröselt. Schade, dachte man, und ließ sich von dem melodisch nicht immer einfallsreichen, improvisatorisch aber mitreißenden Jazz-Rock-Spektakel mit kabarettistischen Intermezzi gerne weitertreiben: „Schooldays“ (Stanley Clarke) bei den Ferienkursen oder frei nach dem Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus: Das ästhetisch Alte ersetzt das Neue.

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