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Blick zur Orgel von Sant’Anna di Stazzema während eines Konzertes. Foto: Privat
Blick zur Orgel von Sant’Anna di Stazzema während eines Konzertes. Foto: Privat
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Versöhnung mit Pfeifen, Tasten und Pedalen

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Jahrzehnte nach einem deutschen Massaker im Zweiten Weltkrieg bildet eine kleine Orgel das Herzstück der Aufarbeitung
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Platanen säumen den Kirchplatz, der sich zum Tal hin weitet. Durch die schmalen Fenster fällt spärliches Licht ins Innere der Kirche. Fast naiv wirkende Malereien bedecken die Wände. Von der jüngsten Hochzeit hängt noch ein quietschrosa Tüllgebinde da, wir sind schließlich in Italien. Auf der Empore aber erhebt sich mit größter Selbstverständlichkeit eine Barockorgel, wie sie auch in einer norddeutschen Backsteinkirche stehen könnte mit dem dreigeteilten Prospekt und den Schnitzwerkverzierungen aus Kastanienholz. Sie ist gerade einmal drei Jahre alt.

Mit der Einweihung dieser Orgel vor drei Jahren ist die Musik in das toskanische Dorf Sant’Anna di Stazzema zurückgekehrt. Seither geben sich renommierte Organisten aus Deutschland und Italien die Register des einmanualigen Instruments in die Hand; Ende August hat die vollbesetzte Kirche sogar die Uraufführung eines Werks von Luca Lombardi erlebt.

Dass der entlegene Ort in den Kastanienwäldern der Apuanischen Alpen hoch über dem Städtchen Pietrasanta solche Beachtung erfährt, ist kein Zufall. Und erst recht nicht, dass die „Friedensorgel“ ausgerechnet von Arp Schnitger inspiriert ist, dem großen Orgelbauer des Barock. Sie hat eine Mission. Sant’Anna ist kein Dorf wie jedes andere.

Es war Schauplatz eines der grausamsten Massaker, die deutsche Militärs im Zweiten Weltkrieg in Italien verübt haben. Am 12. August 1944 ermordeten Soldaten der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer-SS“ binnen Stunden mehr als 500 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, sogar ein drei Wochen altes Baby. Sie trieben ihre Opfer in Gruppen zusammen und erschossen sie mit Maschinengewehrsalven. Nicht einmal die Tiere ließen sie am Leben. Sie setzten Leichen und Häuser in Brand, verwüsteten das Innere der Kirche und zerschossen die Orgel. Und verschwanden so schnell wieder, wie sie gekommen waren.

Die Gegend von Sant’Anna galt als Rückzugsgebiet italienischer Widerstandskämpfer. Für die SS-Truppen war der Übergriff eine Maßnahme der Partisanenbekämpfung. Dass sie in dem Dorf hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Leute abschlachteten, machte für sie keinen Unterschied. Die Deutschen setzten Partisanen und Zivilbevölkerung gleich.

Es sollte Jahrzehnte dauern, bis man begann, die Morde von Sant’Anna juristisch aufzuarbeiten. Erst 1994 wurde in Rom der sogenannte Schrank der Schande geöffnet. In dem Tresor hatten seit Kriegsende Ermittlungsunterlagen der Alliierten gelagert; niemand hatte sich darum gekümmert. 2005 verurteilte ein Militärgericht in La Spezia zehn der beteiligten SS-Männer zu lebenslanger Haft – in Abwesenheit. Keiner von ihnen hat die Strafe angetreten.

Für die Überlebenden ist es schwer zu ertragen, dass die Justiz so langsam arbeitet. Das Unbegreifliche des Verbrechens begleitet sie seit nunmehr 66 Jahren. „Wir wollen keine Rache, aber Gerechtigkeit“, sagt Enio Mancini, der das Massaker als Siebenjähriger überlebte. „Und wir möchten verstehen, wie das geschehen konnte.“

Zusammen mit anderen Überlebenden hat Mancini sein Leben in den Dienst von Gedenken und Versöhnung gestellt. Skulpturen und ein Mahnmal erinnern in Sant’Anna an jenen Augustmorgen. Mancini hat in Jahren zusammengetragen, was von den Toten geblieben war: eine nackte, angeschmorte Puppe, Eheringe oder verrostete Rosenkränze, ausgestellt in einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Vitrine.

Seit 1991 hat er im früheren Schulgebäude, gleich neben der Kirche, ein Museum aufgebaut. „Es war für mich zu Anfang nicht einfach, dass Deutsche ins Museum kamen“, sagt er. „Aber Nazis und Deutsche, das ist nicht dasselbe. Zu dem SS-Bataillon gehörten auch andere Nationalitäten.“ Mancini hat im Lauf der Jahre zahlreiche deutsche Besuchergruppen durch das wachsende Museum geführt, er hat in Deutschland Vorträge gehalten und ist in Schulen gegangen. Im Frühjahr hat er das Bundesverdienstkreuz bekommen.

Die Versöhnungsarbeit von Sant’- Anna wäre vermutlich anders verlaufen, hätte Mancini am Neujahrstag 1998 im Museum nicht die deutsche Familie bemerkt, deren Eltern Italienisch beherrschten. Mancini sprach sie an – und begann zu erzählen. „Vorher wusste ich sehr wenig über die deutsch-italienische Kriegsgeschichte“, erinnert sich Maren Westermann mehr als zwölf Jahre später. „Ich war erschüttert. Unsere Kinder waren damals im selben Alter wie die Kinder von Sant’Anna, als sie ermordet wurden.“

Dass auch die Orgel dem Massaker zum Opfer gefallen war, erfuhren Wes-termann und ihr Mann, Musiker aus Essen, erst zwei Jahre später. Da hatten sie schon das Schulorchester ihres Sohnes nach Sant’Anna gebracht und gaben mit 70 Kindern auf den Stufen des Mahnmals hoch oben am Berg ein Konzert. „Als wir die Geschichte hörten, beschlossen wir, Benefizkonzerte für den Bau einer neuen Orgel zu organisieren“, erzählt Westermann. Unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundespräsidenten Rau und seines italienischen Kollegen Ciampi hat die Initiative „Eine Orgel für Sant’Anna“ in mehr als sechzig Konzerten und zahllose Kollekten und Spendenaufrufe den Betrag für den Neubau zusammengetragen.

Herausgekommen ist ein „deutsches Instrument mit italienischer Seele“, wie es der Bielefelder Organist Johannes Vetter ausgedrückt hat. Die Idee dazu hatte der Orgelbauer Glauco Ghilardi aus dem nahen Lucca, ein glühender Verehrer von Arp Schnitger. Ghilardi hat keine Schnitger-Orgel kopiert, sondern einzelne Elemente zu einem Instrument zusammengefügt, das akustisch wie optisch erstaunlich mit dem kleinen Kirchenraum harmoniert.

Wie bei vielen norddeutschen Orgeln wird der Klang durch das Schnitzwerk verschmolzen. Sieben Register hat das Instrument nur, aber durch geschickte Teilung der Register zwischen Diskant und Bass ist das Farbspektrum größer, ja bisweilen klingt die Orgel sogar zweimanualig. Das Pedal ist an das Manual gekoppelt. Ein unabhängiges Pedalregister ließe sich nachrüsten – wenn das Geld dafür da wäre.

Erst einmal kümmern sich Westermanns und ihre italienischen Mitstreiter darum, dass das kostbare Instrument auch erklingt. In den Monaten Juli und August veranstaltet der eigens gegründete deutsch-italienische „Verein Freunde der Friedensorgel “Sant’Anna di Stazzema”  in der kleinen Kirche sonntagabends Konzerte. Deren ambitionierte Programme tragen die Handschrift der kundigen Musiker; sie haben auch für Improvisationen oder Konzertlesungen Platz. Die beiden ersten Saisons hat die Hamburger „Zeit“-Stiftung unterstützt, seither finanziert der Verein sich zum größten Teil aus Sponsorengeldern.

Bei einem Jahresetat von gerade mal 7.500 Euro fallen für die Künstler nur winzige Honorare ab. Sie kommen trotzdem gerne: „Aus Idealismus“, sagt Maren Westermann. „Manche schreiben mich von sich aus an und fragen danach. Die Geschichte des Ortes spricht sich herum. Und die Organisten schätzen den strahlenden, transparenten Klang des Instruments.“

Höhe- und Schlusspunkt dieses Sommers war das Konzert des Trompeters Reinhold Friedrich und der Organistin Eriko Takezawa. Auf ihrem Programm stand neben Mozart und deutscher und italienischer Barockmusik die Uraufführung von Luca Lombardis „Gilgul“. Das Grauen, das er mit dem Massaker verbindet, hat der Komponist in wenige Minuten hochverdichteter Musik gefasst, in der sich Passacagliateile mit freieren Passagen abwechseln. Von ferne klingt der Bach-Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ an, dann wieder hat die Trompete quälend lange Melodiebögen. „Es war sehr anstrengend zu spielen und sicher auch zu hören“, erzählt Reinhold Friedrich. „Aber ich fand es in diesem Rahmen angemessen, dass ein Stück und seine Interpretation an die Grenzen des seelisch und körperlich Erträglichen gehen.“

Lombardi hat sein Werk „den Opfern des nationalsozialistischen Massakers vom 12. August 1944 in Sant’Anna di Stazzema“ gewidmet. Seit kurzem lernt er Hebräisch. „Gilgul bedeutet Seelenwanderung“, erklärt er in perfektem Deutsch. „Die Seelen irren um uns herum, besonders wenn sie gewaltsam vom Körper getrennt worden sind. Aber sie bedrohen uns nicht. Vielleicht suchen sie ein neues Zuhause.“ Das Stück hat Lombardi während seines Fellowships am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst vollendet. Er ist dieses Jahr zum dritten Mal dort. In seiner Biographie verschränken sich die deutsch-italienischen Zeitläufte des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch: Seine jüdische Mutter schickte den 1945 in Rom Geborenen auf die dortige Deutsche Schule; er hat in Deutschland bei Karlheinz Stockhausen und anderen Großen der musikalischen Avantgarde studiert. Für Institutionen wie den WDR oder die Leipziger Oper schrieb er Auftragswerke. „Immer wenn ich in Deutschland bin, muss ich daran denken, was hier kurz vor meiner Geburt passiert ist“, sagt Lombardi. „65 Jahre sind nichts im Vergleich zur Menschheitsgeschichte. Trotzdem scheint Deutschland seither ein anderes Land geworden zu sein. Es ist unglaublich, was sich in wenigen Generationen verändert hat. Aber gerade deswegen muss man die Erinnerung wachhalten.“

Heute lebt zwar fast niemand mehr in den wenigen Häusern und Höfen von Sant’Anna. Aber immer mehr Menschen machen sich auf den Weg hierher. Sie steigen zum Denkmal hinauf, sie besuchen das Museum oder hören eins der Orgelkonzerte. Sie erzählen anderen, was sie erlebt haben. Und tragen die Friedensbotschaft eines toskanischen Bergdorfs in die Welt.

Der „Verein Freunde der Friedensorgel Sant’Anna di Stazzema“ ist im Internet zu finden unter http://friedensorgelsantanna.italienfreunde.de/

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