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Peter Handkes „Platz“ als entfesseltes Bewegungstheater: In der Choreografie von Fabian Chyle zu Musik von Alvaro Carlevaro. Foto: Charlotte Oswald
Peter Handkes „Platz“ als entfesseltes Bewegungstheater: In der Choreografie von Fabian Chyle zu Musik von Alvaro Carlevaro. Foto: Charlotte Oswald
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Wo bleibt die Transzendenz? Mark Andre komponiert sie

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Sein Vokalwerk „hij 2“ beim Stuttgarter Éclat-Festival uraufgeführt – Neues Musiktheater im Mittelpunkt des Programms
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Neue Musik in Deutschland: Wer Lust und Energie aufbringt, kann das ganze Jahr über erfahren, was in Komponierhäuschen, in Studios oder auch in schlichten Wohnungen alles so komponiert worden ist, was dann auf den diversen Festivals für Neue Musik vorgestellt wird: In Donaueschingen, in Witten, in Stuttgart bei „Éclat“, in Berlin beim „Ultraschall“ oder der „März-Musik“, bei den Kieler „chiffren“, bei den Münchner Musica-Viva-Konzerten, in Kölns traditionsreichen „Musik der Zeit“-Zyklen, in Weingarten bei den Internationalen Musiktagen, bei der „KlangZeit“ in Münster. Und nur wenig entfernt jenseits der nationalen Grenzen, beim Straßburger „Musica“-Festival oder in Salzburg bei der Biennale und, seit der Hinterhäuser-Zeit, sogar bei den eher rückwärts orientierten Salzburger Festspielen.

 

Im Zentrum der vielgestaltigen Initiativen stehen natürlich die Neue-Musik-Tage, die überwiegend Uraufführungen präsentieren: Donaueschingen, Wittens Kammermusiktage und in Stuttgart das sogenannte „Éclat“-Festival, die einst trocken firmierenden „Tage für Neue Musik Stuttgart“, die mit dem neuen Logo darauf hinweisen möchten, dass hier mit „Blitz“ und „Knall“ öffentliches „Aufsehen“ erregt werden soll, das sogar den „Skandal“ nicht scheut (alles Éclat-Bedeutungen). Einen handfesten Skandal aber hat es im letzten Jahrzehnt bei „Éclat“ kaum gegeben – hier und da einen Buhruf oder nur matten Applaus. Dazu wird bei „Éclat“ zu ernsthaft und überlegt gearbeitet, und auch, wenn einmal etwas weniger gelungen erscheint, gibt es produktive Diskussionen und kein Geheul.

Bei jedem Neue-Musik-Ereignis wartet man natürlich auf das Werk, das über die bloße Klangfreisetzung der Notation so etwas wie Transzendenz ausstrahlt. Der Dirigent Michael Gielen unterbrach einmal sogar den Komponisten Helmut Lachenmann, als dieser ihm weitschweifig die Materialien einer neuen Partitur erläuterte: „Und wo bleibt die Transzendenz“ – fragte Gielen, vermutlich leicht ironisch im Tonfall? Diese Frage bewegt bis heute das Komponieren: gleichsam als Sinnfrage, als Frage nach der Utopie in der Musik. Umso überwältigender ist dann der Eindruck, wenn ein neues Werk über Noten und Klang hinaus eine quasi existentielle Dimension gewinnt. In Stuttgart war das der Fall bei dem neuen Chorwerk von Mark Andre für 24 Stimmen und Elektronik mit dem Titel „hij 2“. Das Kürzel bedeutet „Hilfe Jesu“ und die Ziffer 2 verweist darauf, dass der Komponist das Thema schon einmal für Instrumente geschrieben hat. Die Vokalversion rückt den Absichten Mark Andres näher als die instrumentale Fassung: Im schwebenden Zustand zwischen Sterben und allmählicher Auflösung der Existenz flüstern Menschen oft ihren eigenen Namen, schwer vernehmbar, verlöschend, ins Unhörbare übergehend. Dieser sich entmaterialisierende Prozess, der Übergang in eine Art Zwischenreich wird von Marc Andre in subtil gefasste gesungene Klanglichkeit überführt, gestützt und verstärkt durch eine zart ausgehörte Elektronik. Plötzlich erfährt man wieder, welche Innenspannungen das Leise freizusetzen vermag. Damit es gelingt, muss aber auch eine adäquate Interpretation hinzutreten: das SWR Vokalensemble Stuttgart unter Marcus Creed faszinierte einmal mehr durch seine ausgefeilte Klangkultur, die selbst noch das komponierte Verstummen überwölbte. Dieses Ensemble ist einmalig in der Musikwelt. Es, wie es sukzessive geschieht, aus Sparmaßnahmen zu reduzieren, darf man ruhig als Kulturschande bezeichnen.

Das Éclat-Festival hat sich in den vergangenen Jahren stärker als etwa die „Konkurrenz“ in Donaueschingen oder Witten auf musiktheatralische Erkundungen spezialisiert. Im Mittelpunkt des diesjährigen Programms stand ein „Tanz-Musik-Theater“ mit dem Titel „Platzregen“. Alvaro Carlevaros Musik in 14 Szenen für 28 Stimmen, im letzten Jahr schon konzertant vom SWR Vokalensemble Stuttgart in einem „attacca“-Konzert unter dem Titel „Unbemalte Bilder“ uraufgeführt, diente, hier von Band zugespielt, dem Choreographen Fabian Chyle (sowie als Mitarbeiter Hans-Peter Jahn) als musikalische Grundierung für eine tanztheatralische Ausformung von Peter Handkes wortlosem Theaterstück „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“. Handkes Beschreibung eines öffentlichen Platzes, auf dem und über den drei Dutzend Menschen ihren Verrichtungen nachgehen, stehen, eilen, gestikulieren und so fort, gewinnt aus der genauen Beobachtung von Figuren gleichsam eine surrealistische Atmosphäre, eine Magie des Unwirklichen, auch eine oft hintergründige Komik, die sich aus manchen Situationen ergibt. Etliche Schauspielaufführungen glitten dabei gedankenlos in den puren Jux ab. 

Fabian Chyle und Hans-Peter Jahn nahmen die Vorlage jedoch ernst. Mit knapp einem Dutzend Tänzerinnen und Tänzer entstand ein hochvirtuoses, geradezu entfesseltes Bewegungstheater, das im Körperspiel, in Gesten und Gebärden, rasenden Läufen und akrobatischen Verrenkungen Geschichten über Handkes imaginierte Figuren „erzählt“. Parallel dazu, quasi als weitere Dimension, erklingt Carlevaros Musik, eine raffiniert strukturierte Vokal-Klang-Komposition, nicht als Vorlage für die Choreographie, sondern als autonomer Teil der vielschichtigen Anlage des Werkes. Die szenische Gestaltung ist auf unseren Bildern auf Seite 1 und auf der vorhergehenden Seite anschaulich zu erkennen. 

Theatralisches boten auch die Neuen Vocalsolisten. Die sechs Sänger um den Countertenor Daniel Gloger als eine Art Stimmführer haben neben ihrer vokalen Virtuosität auch bemerkenswerte schauspielerische Qualitäten entwickelt. Das machte Friedrich Cerhas „Zwei Szenen“ für sieben Stimmen mit den Titeln „Wohlstandskonversation“ und „Hinrichtung“ zu wunderbaren Kabinettstückchen. Aus verfremdender Kunstsprache und fast elegant dahinfließender Musik entsteht im zweiten Titel ein packendes Stimm-Duell zwischen Countertenor und den anderen, das, wie der Titel verspricht, mit der „Hinrichtung“ des Solo-Sängers endet. In Luca Francesconis „Herzstück“ für sechs Stimmen, nach Heiner Müllers gleichnamigem Minidrama (Eins: „Darf ich Ihnen mein Herz zu Füßen legen? – Zwei: „Wenn Sie meinen Fußboden nicht schmutzig machen) wird das scheinbar Realistische des Dialogs durch oft nur geräuschhafte Tongebung ins Absurde gesteigert. Christoph Ogiermann entfesselt bei seinen „Versuchen“ für sechs Stimmen in den Vocalsolisten sozusagen das Tier: Tierlaute werden in Klangmaterialien überführt. Und in Gordon Kampes „Falschen Liedern“ dominiert die kurze, präzis gefasste Form des Sketches mit komponierter Comic-Gestik: Absurdes mit Witz und Intelligenz. Die Neuen Vocalsolisten waren in ihrem Element.

Beteiligt am Éclat“-Festival war auch wieder das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, von den Plänen der Intendanz ebenso überrascht wie die Kollegen in Baden-Baden (siehe nebenstehenden Kommentar). Vom Komponisten Matthias Pintscher umsichtig dirigiert, zeigte sich das Orchester in bester Form, engagiert und kompetent in neuen Werken von Sandeep Bhagwati und Stefan Pohlit sowie in Magnus Lindbergs Hommage an Gérard Grisey für 20 Instrumente. Pohlits „Taroq“ für großes Orchesters wirkte trotz formaler Anlage leicht weitschweifig und ausufernd. Sandeep Bhagwatis „Limits & Renewals“ überzeugte durch eine ausdrucksmächtige Klangsprache, die einen ziemlich metaphyselnden Text konterkarierte. Im selben Konzert erklangen auch zwei Klavierstücke solo von Madeleine Ruggli und von der Koreanerin So Jeong Ahn, deren Stück „LOL“ ein wenig indiffferent wirkte, während Rugglis „refractions“ in ihren „Brechungen“ fast eine poetische Klanglichkeit gewinnt.

Erstaunlich viele Uraufführungen und Auftragswerke gab es diesmal, auch im letzten Konzert, das vorwiegend dem Klavier gewidmet war. Sven-Ingo Koch verwandelt das Instrument durch Präparation in „Quel portone dimenticato“ zusätzlich in ein Percussionsinstrument. Robert HP Platz bringt in seinen „Branenwelten“ den Klavierklang und die von diesem ausgehenden elektronischen Klangerweiterungen in ein fein gewirktes Klangspiel voller Impulse und Balancen, wobei man manchmal nicht genau erkennt, wo das Klavier, wo die Elektronik aufklingt. Die Japanerin Tomoko Fukui kombiniert in „To the forest“ Chor (SWR Vokalensemble), Saxophon, Schlagzeug und Klavier für drei apart klingende, ein wenig glatte Sätze. Harrison Birtwistle, für sein neues Klavierstück nach Stuttgart gekommen, konnte für seine rhythmisch effektvolle „Gigue machine“ viel Beifall entgegennehmen. Diesen erhielt auch Hans-Jürgen Gerung für „Non fare il minimo rumore“ für Countertenor und Streichquartett (Daniel Gloger und das stadler quartett aus Salzburg): Kleine poetische und sensibel ausgehörte Miniaturen auf Gedichte Sylvano Bussottis, manchmal schon verdächtig romantisch.

Da griff Iris ter Schiphorst in ihrem „dead wire“ für Klavier und Elektronik energischer zu. Der Pianist muss neben dem Klavier noch zwei Keybords traktieren, von denen das eine die Elektronik steuert. Die klangliche Erweiterung zwischen „zartesten Glissandi“ (Schiphorst) und wuchtigen Klang-eruptionen ist beeindruckend. Auch das Verändern des angeschlagenen Keybord-Tones durch anhaltenden Tastendruck sorgt für klangfarbliche Bereicherungen. Iris ter Schiphorst interessiert natürlich auch und vor allem das technische Verfahren. Aber ihr „dead wire“ ist auch ein interessantes, kraftvolles Musikstück. „Éclat“ 2012 war so abwechslungsreich, spannend und ertragreich wie immer: und auch etwas mehr.

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