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Experten: Die Hälfte der geförderten Kultureinrichtungen schließen [update - DMR und DOV]

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Hamburg - Die Hälfte aller staatlich subventionierten Theater, Museen und Bibliotheken in Deutschland könnten nach Ansicht von Experten geschlossen werden. Das kulturelle Angebot wachse, die Zahl der Konsumenten dagegen nicht, schreiben Dieter Haselbach, Leiter des Zentrums für Kulturforschung bei Bonn, Armin Klein, Professor für Kulturmanagement, Pius Knüsel, Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia und Stephan Opitz, Leiter des Referats für Kulturelle Grundsatzfragen im Bildungsministerium von Schleswig-Holstein in einem Beitrag für das Nachrichtenmagazin "Spiegel".

 

Die Autoren ziehen daraus den Schluss, dass künftig auf die Hälfte der subventionierten Institutionen verzichtet werden könnte und die frei werdenden Mittel neu verteilt werden müssten.

(nmz) - Am 12. März veröffentlichte der Deutsche Kulturrat dazu folgende Pressemeldung:

50% weniger für die Kultur? - Wenn die Lösungen so einfach wären

 

Kulturrat irritiert über Spiegel-Artikel zur Kulturfinanzierung
 
Berlin, den 12. März 2012. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, ist irritiert über den heute erschienenen Spiegel-Artikel zu Kulturfinanzierung. In dem Beitrag "Die Hälfte" von Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz, der offensichtlich ihr in wenigen Tagen erscheinendes Buch promoten soll, fordern die Autoren den Kulturetat bundesweit um die Hälfte zu reduzieren. Sie attestieren der deutschen Gesellschaft eine unreflektierte, kulturelle Aufrüstung seit den 1970er-Jahren.
 
Der Deutsche Kulturrat fragt sich, von welcher Realität hier die Rede ist. Fakt ist: selbst die von den Autoren geforderte Reduzierung des Kulturetats um 50 Prozent bringt keine nennenswerte Entlastung der öffentlichen Haushalte. Fakt ist: der Kulturbereich ist ein sehr kniffliges Gebilde mit zahlreichen Verflechtungen. Gerade öffentliche Kultureinrichtungen sind wichtige Auftraggeber und Kunden der von den Autoren so gelobten Kulturwirtschaft. Zudem sind öffentlich geförderte Institutionen wichtige Arbeitgeber und Auftraggeber freier Kunst- und Kulturschaffender. Fakt ist: in verschiedenen Bundesländern finden derzeit intensive Beratungen zur künftigen Ausrichtung der Kulturpolitik statt. Zu nennen ist hier der Kulturkonvent in Sachsen-Anhalt, der Dialogprozess in Niedersachsen oder auch die Debatte in Brandenburg um die Ziele der dortigen Kulturpolitik.
 
Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, sagte: "Wenn die Lösungen doch nur so einfach wären, dann könnte Kulturpolitik am Küchentisch gemacht werden. Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz, die Autoren des Buches "Der Kulturinfarkt", fordern von den Kultureinrichtungen Verzicht. "Derzeit fördern wir Lobby und Institutionen – nicht die Kunst", lesen wir bei der Buchankündigung. Verzicht von anderen zu fordern ist leicht, besser wäre es, die Autoren gehen in ihren eigenen Kulturinstitutionen mit gutem Beispiel voran. Haselbach leitet das von öffentlichen Aufträgen abhängige Zentrum für Kulturforschung in Bonn, Klein ist Vorstandsmitglied der Kulturpolitischen Gesellschaft in Bonn, die ebenfalls hauptsächlich durch öffentliche Förderung existiert und Knüsel ist Direktor der durch öffentliche Mittel finanzierten Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Also viel Spielraum um mit gutem Beispiel voranzugehen!"

 

[update DMR und DOV]:

FOR SALE: Droht dem Kulturland Deutschland der Winterschlussverkauf?!

In dem gestern erschienenen Artikel „Die Hälfte?“ der Wochenzeitschrift DER SPIEGEL fordern die Autoren Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz eine Reduzierung der öffentlichen Kulturförderung um 50 Prozent. Der Artikel basiert auf dem am 30. März erscheinenden Buch „Der Kulturinfarkt“ derselben Autoren. Sie unterstellen der geförderten Kulturszene Konformität und Bedeutungserosion.

Dazu Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates: „Gesellschaftspolitische Werte und Ziele sowie die daraus folgende Finanzierung öffentlicher Einrichtungen und Vorhaben in Frage zu stellen ist ein normaler demokratischer Vorgang. Ein halbwegs funktionierendes Ökosystem auf Grundlage von egoistischen Gewinnsteigerungsinteressen zerstören zu wollen ist pervers. Die Autoren des SPIEGEL-Artikels offenbaren nicht nur ihre dem Elfenbein geschuldete Unkenntnis über das Kulturland Deutschland, sondern vermischen – mindestens grob fahrlässig – wenige Fakten zu einem inkonsistenten Begründungsgebäude. Zu dieser verzerrten Darstellung der Sachlage gesellen sich viel Befindlichkeit und Glaubensbekenntnisse – ein Armutszeugnis für die Kulturwissenschaft in Deutschland.

‚Kultur für alle‘ ist ein zwingendes Ziel für eine Gesellschaft, die sich auf dem Weg zu einer Wissens- und Kreativgesellschaft befindet. Ohne die Chance auf kreative Freiräume und die Möglichkeit für den Einzelnen, sich künstlerisch auszudrücken und mitzuteilen, wird das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht funktionieren.
Die Amerikanisierung unseres Kulturlebens, wie es die Autoren mit ihrer ausschließlichen Nachfrageorientiertheit einfordern, wäre das Aus für die Kulturelle Vielfalt in unserem Land. Der gesellschaftliche Auftrag fordert die Balance zwischen Nachfrage wecken und Nachfrage decken. Die Chance auf kulturelle Teilhabe muss insbesondere Kindern und Jugendlichen eröffnet werden, damit sie selbstbestimmt ihren künstlerisch-kulturellen Weg finden können.
Im Gegensatz zu den wiederum nicht belegten Behauptungen der Autoren ist nicht nur ein fortlaufender Prozess der Selbsterneuerung der kulturellen Einrichtungen in Gange, sondern vor allem seit der Wende ein Raubbau kultureller Infrastruktur, der kulturelle Teilhabe bereits heute insbesondere im ländlichen Raum zur Fata Morgana werden lässt. 100.000 Schülerinnen und Schüler auf den Wartelisten der öffentlichen Musikschulen sind ein gesellschaftspolitischer Skandal.“

Berlin, 13. März 2012

 

DOV zum aktuellen „Spiegel“-Artikel „Die Hälfte?“

Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) fordert die vier Autoren des Artikels „Die Hälfte?“ auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und die von ihnen geforderte Halbierung der öffentlichen Finanzierung von Kultureinrichtungen zunächst in ihren eigenen Institutionen umzusetzen und damit die Machbarkeit ihrer Pläne quasi „am eigenen Leib“ zu demonstrieren. In der heute erschienenen aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ stellen die Autoren die gegenwärtige Kulturfinanzierung pauschal in Frage.
„Es ist völlig illusorisch zu glauben, in einem komplexen System wie der Kultur könne man Einsparungen erzielen, indem man im Rasenmäher-Verfahren einfach mal fünfzig Prozent der Einrichtungen und Gelder kürzt“, sagt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung. „Selbst wenn man es könnte, ließe sich damit kein einziger öffentlicher Haushalt sanieren, da die Kulturausgaben mal gerade knapp zwei Prozent aller öffentlicher Gesamtausgaben in Deutschland, und damit einen verschwindend geringen Anteil, ausmachen. Außerdem ist es geradezu naiv, dass die Autoren ernsthaft glauben, wenn den Kultureinrichtungen Geld weggenommen würde, käme dies z.B. der freien Szene oder der Laienkultur zugute. Das ist der reine Blödsinn: Das Geld, das einmal im Kulturbereich gestrichen wird, ist und bleibt für diesen endgültig verloren und versackt im allgemeinen Haushalt“, so Mertens weiter.

„Es ist zudem nicht ohne Brisanz, wenn die eigentlichen Nutznießer der Diskussion, die die Autoren mit ihrem Artikel anzustoßen versuchen, zunächst sie selbst sind“, empört sich Mertens. „Nicht für eine Verbesserung der Kulturlandschaft ziehen die Herren Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz hier vor allem zu Felde, sondern für eine bessere Auftragslage ihrer ohnehin schon regen privaten Beratertätigkeit. Und das ist dreist. Selten wurde in einem Artikel so erfolglos versucht, die Werbung in eigener Sache durch angebliche Sachargumente zu verschleiern“, so Mertens abschließend.