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Sergej Prokofjew: Der feurige Engel. Premiere am 29. November 2015 im Nationaltheater. Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski. Inszenierung: Barrie Kosky. Foto: Wilfried Hösl
Sergej Prokofjew: Der feurige Engel. Premiere am 29. November 2015 im Nationaltheater. Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski. Inszenierung: Barrie Kosky. Foto: Wilfried Hösl
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Psychos im Hotel

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Barrie Kosky transponiert alle historischen und konfessionellen Bezüge von Prokofjews „Feurigem Engel“ in die private Psyche der Hauptfiguren. Wolf-Dieter Peter berichtet.

Eigentlich hätte am Ende von Barrie Koskys Neudeutung von Prokofjews „Feurigem Engel“ im Münchner Nationaltheater ein Wagen der Nervenheilanstalt Haar-München auf die Bühne rollen können, um die sich als „Renata“ ausgebende Svetlana Sozdateleva sofort einzuliefern. Denn was die Moskauerin in hysterischer Gestik, selbstvergessener Körpersprache bis hin zu hektisch verquastem Aktionismus zu immer wieder hochdramatisch ausbrechendem Gesang, kurz: „sänger-darstellerisch“ leistete, war nicht nur derzeit wohl konkurrenzlos, sondern auch ein perfekt gezeichnetes Krankheitsbild. Bravissima!

Sergej Prokofjews teilweise im oberbayerischen Kloster Ettal entstandenes gut zweistündiges Musikdrama führt am Beispiel Renatas vor, wie im 16.Jahrhundert mädchenhafte Wahn-Fixierung auf die Erscheinung eines „feurigen Engels“ über sexuellen Missbrauch durch einen Adeligen und Flucht ins Kloster dennoch durch die ebenfalls wahnhaft fixierte Inquisition auf den Scheiterhaufen endet. Der Renata bald verfallene Ritter Ruprecht kann sie nicht retten, denn zeittypisch spielen auch eine Wahrsagerin, der Gelehrte Agrippa von Nettesheim, ein obskure Geheimschriften liefernder Antiquar, schließlich Faust und folgerichtig auch Mephistopheles herein.

Was insgesamt ein Parallelwerk zu Pendereckis „Teufeln von Loudon“ sein könnte, hat Kosky völlig enthistorisiert und privatisiert. Sein Ruprecht ist eher ein international erfahrener Businessman von Heute, der sich in die Luxus-Suite eines Top-Hotels einmietet. Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat das im bühnenbreiten Cinemascope-Format bis ins neobarocke Kitsch-Detail gestaltet. Zu diesem exakten Realismus passt nicht, dass Renata einfach unter dem Luxusbett hervorgekrochen kommt. Doch es begegnen sich ja nicht Vicki Baums „Menschen im Hotel“, sondern eine Psychotin nimmt den Raum samt Klavier in Besitz und verwüstet ihn gelegentlich. Parallel zu ihren Wahnschüben verengt sich der Raum mit fahrenden Wänden und Decke mal bedrängend oder weitet sich gespenstisch bühnengroß.

In diese Psycho-Kammer lässt Regisseur Kosky dann mit Agrippa eine Jüngerschar hereinbrechen: es sind Tatoo-bemalte Transvestiten in bauschigen Abendkleidern, die in Otto Pichlers Schlichtchoreographie ein bisschen „Rocky Horror“ beginnen – und dann beim Auftritt von Faust und Mephistopheles in ein Sado-Maso-Gewusele mit Strapsen und Penis-Gewackel steigern, hin zum „Höhepunkt“, dass ein Glied erst als Wurst gebraten, halb verspeist und dann Renata als Penis angenäht wird. Statt „Orgie“ tat sich da eher die Frage auf, ob das nicht weniger Renatas oder Ruprechts Visionen sind, sondern vielmehr homoerotische Abseitigkeiten des Bühnenteams, in wechselnden Kitschfarben bis zu „verruchtem Rot“ ausgeleuchtet. Noch befremdlicher war Koskys Entschluss, alle Klosterinsassen – klanglich glänzend: der von Stellario Fagone einstudierte Chor – im Kostüm eines dornengekrönten Christus auftreten zu lassen - völlig sinnentfremdet auch den Inquisitor, der die vom Teufel besessene Renata dem Scheiterhaufen überantwortet … doch ein wohl zunehmend laizistisches Premierenpublikum akzeptierte alles, denn es war theaterhandwerklich glänzend gemacht: Beifall, Jubel, kein einziges Buh.

Jubel gebührte der musikalischen Seite der Aufführung. Vladimir Jurowski konnte das Staatsorchester animieren, Prokofjews Vielfalt leuchten, glänzen und beeindrucken zu lassen – da stehen neben knallharter Rhythmik à la Strawinsky ariose Aufschwüngen in der Nachfolge Tschaikowskys, slawische Kirchenmusikklänge kontrastieren zu ostinaten Wiederholungen à la Minimal Music und die Zwischenspiele sind grandiose Musikdramatik. Dennoch wurden neben der überragenden Svetlana Sozdateleva auch der kernige Bariton von Evgeny Nikitins Ruprecht oder stellvertretend für alle gut besetzten Nebenrollen: der grell verstiegene Tenor von Vladimir Galouzines Agrippa oder der geifernde Mephisto-Tenor von Kevin Conners nie zugedeckt. Musikalisch bot der Abend echtes Staatsopernniveau. Ob sie Koskys inszenatorischen Einseitigkeiten folgen wollen, müssen künftige Besucher selbst entscheiden.

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