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Konzert in der Universität der Künste. Foto: © FilmPhilharmonie
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Shakespearescher Meta-Dialog als Oper ohne Worte – Frank Strobel interpretiert Sergej Prokofjews „Romeo und Julia" in Berlin

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Jedes Gastspiel des Dirigenten Frank Strobel in Berlin verspricht gleichermaßen ein musikalisches wie cineastisches Ereignis. Weltweit bereits fünfmal mit unterschiedlichen Orchestern hat er Sergej Prokofjews „Romeo und Julia" als Film interpretiert. In der Berliner Erstaufführung in der Reihe „Musik und Film“, wetteiferte das Rundfunk-Sinfonie Orchester Berlin mit dem berühmten getanzten Spielfilm. Das nachhaltige Erlebnis bot obendrein eine seltsame Verknüpfung zu einem anderen Berliner Kunst-Event.

Anknüpfend an die erste große Zeit der neuen Kunstform getanzter Handlungen, etwa durch Igor Strawinskys Kompositionen für Diagilews „Ballets russes“, gelang Sergej Prokofjew mit seinem Opus 64, der Ballettfassung von Shakespeares Drama „Romeo und Julia“, im Jahre 1935 ein herausragender Beitrag. Für die getanzte Version der wohl berühmtesten Liebesgeschichte der Weltliteratur zurrte der Komponist 52 kompositorische Einzelnummern zu einem von leidenschaftlichen Emotionen getragenen stimmigen Gesamtkomplex.

Da sich die Uraufführung in der vom sozialistischen Realismus bestimmten Epoche zunächst als politisch nicht tragbar erwiesen hatte, wurden vom Komponisten zunächst zweimal acht Nummern als Ballettsuiten herausgelöst, deren wiederholt erfolgreiche Aufführungen der von Prokofjew selbst geleiteten Bühnenuraufführung in Brno vorausgingen und den Boden für szenische Aufführungen bereiteten.

Auch bei der Berliner Aufführung im Konzertsaal der Universität der Künste (wohin die ursprünglich fürs Konzerthaus geplante Veranstaltung ausweichen musste) spielte in der Realisierung der mehr pantomimischen als balletösen Handlung das Orchester die Hauptrolle – vor und neben einer vergleichsweise zu kleinen Leinwand. Während die originale Klangqualität der Filmspur, in der den Dreharbeiten vorangegangenen Einspielung unter Gennady Rohdestvensky heute mulmig und stellenweise topfig wirkt, ist die breit gefächerte Live-Klangwirkung des Rundfunk Sinfonie-Orchesters Berlin bestechend.

Die vom Komponisten identisch gezeichnete Kampflust auf beiden Seiten der verfeindeten Patriziergeschlechter Carpulet und Montague lässt Dirigent Strobel so eruptiv hervorbrechen, dass sie direkt die Magenregion der Zuhörer erreicht, um dann immer wieder aufs Neue mit gesteigerter Sinnlichkeit und zarter Kantabilität die Liebesszenen aufblühen zu lassen. Inmitten blechgepanzerter Märsche wirken Stampfen und Schweben, Hämmern und Hauchen, wie eine ins Medium der Programmmusik transkribierte Kunstsprache eines Shakespeareschen Meta-Dialogs. 

Aber Prokofjews Partitur ist wenig deiktisch und nie pointiert. So wartet der Zuschauer vergeblich auf die insbesondere in den frühen Schwarzweiß-Stummfilmen von Strobel stets verblüffend pointierte Synchronizität von Bild und Musik. Der erste und bis heute am synchronsten arbeitende Dirigent einer nun doch schon mehr als zwei Dezennien umfassenden Geschichte der Wiederaufführung historischer Filme mit Live-Musikbegleitung, ist somit beim musikalischen Live-Nachvollzug Lew Arnschtams Film primär Symphoniker. Mit dem einen oder anderen vorgezogenen Verklingen einer Szene, dem Verstummen oder dem Überhang in eine Nachfolgesequenz hält er sich exakt an die Vorlage.

Hatte bereits Prokofjews Bühnenpartitur in ihrer Unterbrechung und Wiederaufnahme von Themen cineastische Elemente vorweggenommen, so wurde die Musikabfolge in der Verfilmung zu einer höchst eigenwillig wilden Collage.

Wie Richard Wagner seine frühen Opern für Wilhelmine Schröder-Devrient, die ihn als Romeo in Bellins Oper nachdrücklich beeindruckt hatte und die später auch seine Senta und Venus kreierte, intendierte, so hatte Sergej Prokowjew bei seiner Komposition von „Romeo und Julia“ die Primaballerina Galina Ulanowa im Sinn, welche dann tatsächlich 1940 am Bolschoi-Theater die Moskauer Erstaufführung verwirklichte.

Auch in Lew Arnschtams Verfilmung verkörpert die Ulanowa – mit einer für die Fünfzigerjahre erstaunlich sexuellen Körperlichkeit – die weibliche Hauptpartie.

Das mit Außenaufnahmen am Schwarzen Meer gedrehte Epos, opulent und aufwändig, mit Massenszenen wie in einem Monumentalfilm, gewann 1955 auf dem Internationalen Filmfestival in Cannes den „Prix du film lyrique", die goldene Palme.

Kurioserweise hatte Prokofieff ursprünglich ein Happy-End der Balletthandlung vorgesehen – zumal Tote so schwer miteinander tanzen können. Doch infolge des Intervenierens der russischen Literaturkritik unterblieb jener unfreiwillige Bogenschlag zu einer Opernpraxis, der wir noch in Bellinis „I Capuleti ed I Montecchi“ begegnen.

Wenn Juri Schdanow als Romeo in der Choreografie von Leonid Lawrowsky den leblosen Körper der vom Gift betäubten Julia anklagend gen Himmel hebt, so liegt die Ulanowa steif auf seinem ausgestreckten Arm, mit ihrem Schoß als Gipfelpunkt.

Diese Darstellung schlägt den Bogen zu einer Zeichnung des Jugendstil-Künstlers Sascha Schneider, die in einer zwei Tage zuvor im Berliner „Schwulen Museum“ eröffneten, umfassenden Sascha Schneider-Retrospektive der Sammlung Hans-Gerd Röder zu sehen ist, – nur dass es sich beim Dresdener Maler um einen Knabenkörper handelt.

Das Publikum im nicht bis auf den letzten Platz besetzten Auditorium sparte nach 90 pausenlosen, mit Klangopulenz gefüllten Minuten weder mit Applaus fürs Orchester noch mit Bravorufen für den Dirigenten.

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